Das Modell Münster

Gelobtes Flüchtlingskonzept stößt an Grenzen

Fahrräder stehen in Münster (Nordrhein-Westfalen) vor der städtischen Flüchtlingseinrichtung Hoppengarten
Die Betreuung von Flüchtlingen in Münster ist fest in städtischer Hand, so wie in der Flüchtlingseinrichtung Hoppengarten. © picture alliance / dpa / Caroline Seidel
Von Moritz Küpper · 11.08.2015
Keine vollen Turnhallen, dafür persönliche Betreuung und dezentrale Unterbringung - für dieses Flüchtlingskonzept hat Münster viel Lob erhalten. Doch das Modell steht auf der Probe. Die Anzahl der Asylbewerber ist mehr als vier Mal so hoch wie die Kapazität.
"Hallo George, na."
"Hallo."
"Können wir reinkommen?"
"Ja."
Ein Einfamilienhaus im Westen Münsters. Der kleine George, er kommt so gerade an die Türklinge und öffnet die Tür. Sozialarbeiterin Gitta Kock zeigt das Haus. Denn das Einfamilienhaus, in dem George mit seiner Schwester und seiner Mutter lebt, es ist kein normales Haus, sondern eine Interimsunterkunft für Flüchtlinge. Gitta Kock spricht mit George arabisch:
"Der ist erst seit zwei Monaten in der Kita oder drei und er sagt, er hat mich schon verstanden."
"Willst Du nach oben gehen?"
"Wir gehen gleich auch nach oben, Süßer. Das ist so, wie praktisch unser Standpunkt auch. Hier wohnt eine Familie, dreiköpfig. Weiß gar nicht, warum sie sich gerade verkriechen..."
Über zehn Namen stehen am Klingelschild. Jetzt, im Eingangsbereich, sind alle weißen Zimmertüren verschlossen.
Ideen gegen Entstehung von Ghettos
Das Haus-Nr. 81, durch das Gitta Kock gerade führt, es ist eines von vielen in einer Siedlung aus Steinhäusern. Große grüne Rasenflächen, davor dann ein breiter Gehweg.
"Wir sind hier an der Von-Esmarch-Straße. Das sind ehemalige Briten-Wohnhäuser, die wir zurzeit interimsmäßig für Flüchtlinge nutzen."
Dagmar Arnkens-Homann ist verantwortlich für die Unterbringung hier, sie ist die Sozialamtsleiterin in Münster. Eigentlich ist die Siedlung um die Von-Esmarch-Straße nicht das Konzept, für das Dagmar Arnkens-Homann, vor allem aber die Stadt Münster steht – und mittlerweile auch bekannt ist:
"Also, die Stadt Münster hat ja ein Konzept, dass darauf beruht, dass wir die Flüchtlinge nicht zentral, in großen Einheiten unterbringen, so wie andere Kommunen: 300-400, oft an Randgebieten der Stadt, sondern wir haben ja eine integriertes Flüchtlingskonzept. Das bedeutet: Kleine Einheiten, Häuser. Natürlich jetzt, in der sogenannten Krisenzeit zur Unterbringung von Flüchtlingen auch Container, angemieteten Wohnraum, immer zu 50 Personen."
Arnkens-Homann sitzt mittlerweile am Tisch in Haus-Nr. 63. Erdgeschoss, der Raum für den Sprachunterricht. An der Wand hängen Zeichnungen von Kindern. 50 Personen! Es ist diese Zahl, die Münster als Ziel ausgerufen hatte, auf die man stolz war und ist – und auf die sich das Konzept wohl am ehesten runterbrechen lässt:
"Bis 50, das finde ich eigentlich eine optimale Größe, weil die Integrationsleistungen viel besser sind. Wenn sie sich vorstellen, sie haben in ihrer Nachbarschaft auch mal eine Einrichtung mit 400, 500 Flüchtlingen, ganz unterschiedliche Nationalitäten. Da hat man als Anwohner und als Nachbar erst mal Sorge, man geht auch vielleicht nicht so einfach in so eine Einrichtung hinein, wo so viele Menschen sind. Und hier soll es sich ja in die Nachbarschaft einfügen. Außerdem kann man natürlich 50 Personen viel schneller persönlich kennenlernen. Kinder, oder einzelne, als 400 oder 500."
27 neue Standorte werden getestet
Zumal so auch die Entstehungsgefahr von Ghettos geringer sei, so Arnkens-Homann. Denn: Bei insgesamt 300.000 Einwohnern in Münster sei Integration nur zu gewährleisten, wenn die Flüchtlinge auf die einzelnen Stadteile verteilt werde. Geboren wurde das Modell rund um die Jahrtausend-Wende:
"Der Ursprung des Konzepts war es, dass nach dem Jugoslawien-Krieg, dadurch, dass die Flüchtlinge dann wieder zurückgegangen sind in ihre Heimat, diese großen Unterkünfte, die wir bislang auch hatten, die waren auch oft in einem sehr schlechten Zustand, sehr marode. Also, man hat die aufgegeben. Gleichzeitig hat die Stadt sich aber darauf einstellen wollen und hat es auch getan und sich überlegt, was ist, wenn die nächsten Flüchtlinge, wenn irgendwo wieder Kriege entstehen... Und so ist dieses Konzept eigentlich entstanden, dass wir gesagt haben, wir bauen in einzelnen Stadtteilen, einzelne Häuser. Und da sind insgesamt eben fünf dieser Häuser auch entstanden."
Ein weitere Baustein des Konzepts: Bei allen Standorten wurde die Anbindung an die Infrastruktur überprüft, sprich: Gibt es eine öffentliche Verkehrsanbindung? Schule? Kita? Wie ist das Konfliktpotential in der Gegend?
Doch: Die aktuellen Flüchtlingszahlen überfordern auch die Stadt Münster und ihr Modell. In einem Mediationsverfahren und Diskussionen innerhalb der Verwaltung wurden zwar weitere 27 Standorte auf ihre Tauglichkeit untersucht, von denen nun auch elf ausgewählt sind, doch eine Herrichtung braucht Zeit, weshalb nun unter anderem die Siedlung hier im Westen der Stadt benutzt wird. Sie zeichnet zwar das Modell im Kleinen nach – sprich: begrenzte Personenzahl in den Häusern, Hilfe bei der Integration – dem herkömmlichen Ansatz, wird es nicht gerecht, wie Sozialpädagogin Kock weiß:
"Also hier in der Von-Esmarch-Straße und am Muckermannweg sind wir auch schon weit über 50 hinaus gewachsen. Das sind jetzt fast 300 Flüchtlinge, die hier wohnen."
2300 Flüchtlinge, aber nur Platz für 600
Bis zur vergangenen Woche lag die Zahl der unterzubringenden Flüchtlinge insgesamt bei bereits bei 2300. Die Stadt hatte regulären Platz für 600. Doch unabhängig von diesen Kapazitäten, sozusagen der Hardware, braucht die Stadt bei der Software, der Integration, Hilfe von den Ehrenamtlichen, wie beispielsweise Christina Kosin. Die junge Frau, die einst aus Russland nach Deutschland kam und an der „Deutschen Hochschule der Polizei" arbeitet, gibt jeden Mittwoch Sprachunterricht – und improvisiert:
"Ich hab halt durch die Flüchtlinge, durch den Sprachunterricht eben gelernt, wie ich an die ganze Sache rangehen soll. Nur bis zu einem bestimmten Teil können da Youtube-Videos und Internet und Austausch mit anderen Pädagogen helfen. Also, es war echt Learning-by-doing."
Ohne diese Improvisation auf allen Seiten, ohne das ehrenamtliche Engagement wäre die aktuelle Aufgabe nicht zu bewältigen. Kurz vor dem Wochenende kam die Nachricht, dass „Westlotto" in Münster seine Mitarbeitern zwei Stunden pro Woche freistellt, damit diese Flüchtlingen helfen können. Durch die Hilfe der Bürger, will man in Westfalen an seinem eigenen Ansatz, dem dezentralen Flüchtlingskonzept festhalten, zumal es nun auch eng mit dem Stadtnamen verbunden ist. Ähnlich wie beispielsweise in Leverkusen, wo das sogenannte Leverkusener Modell geboren wurde, dass auch die Unterbringung in Turnhallen ablehnt. In der Stadt am Rhein setzt man schon seit Jahrzehnten darauf, Wohnungen und Häusern anzumieten.
"Konzept ist krisenfest – noch"
Doch, wie in allen Kommunen, gibt es auch in Münster aktuell eine Belastungsprobe: Das "Konzept ist krisenfest – noch", kommentierte die örtliche Zeitung, die Westfälischen Nachrichten", bereits im Oktober des vergangenen Jahres – und mahnte mehr Gelder und Unterstützung von Land und Bund an. Es ist ein Hilferuf, der aktuell aus jeder Kommune kommen könnte – denn auch das „Modell Münster", mit seinen kleinen Gruppen, dem engen Kontakt und der gelebten Integration ist an seinen Grenzen:
"Wir wollen da wieder hin. Das ist der Grundgedanke. Das Konzept soll Bestandteil werden für die Zukunft, aber bis dahin ist es nochmal ein anderer Weg."
Doch: Wann, wo und wie, der endet, das weiß auch Sozialamtsleiterin Arnkens-Homann nicht. Momentan zumindest.
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