Das Mekka für erneuerbare Energien

Von Albrecht Breitschuh · 16.11.2009
4000 Einwohner auf 112 Quadratkilometern – das ist die dänische Insel Samsö im Kattegat. Sie gilt als Modell für die Energiewende, als ein Mekka für Klimaschützer. Denn die Insulaner, die sogenannten Samsinger, erzeugen mehr Energie als sie brauchen: mit Windrädern, Solaranlagen, Strohbrennern und Kuhmilch-Wärmetauschern. Noch vor zwölf Jahren brachten Schiffe Heizöl auf die Insel, Strom, überwiegend aus Kohlekraftwerken, kam per Kabel, für jeden Samsinger wurden so pro Jahr elf Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre geblasen. Der Auftrag der dänischen Regierung war, in einem Modell-Projekt diese elf Tonnen auf null zu reduzieren, innerhalb von zehn Jahren, ohne besondere Hilfen.
600 Kilogramm schwer sind die Strohballen, die sich da ganz langsam auf einem Förderband in Richtung Häckselmaschine bewegen. Darin werden die Halme zerkleinert und anschließend verbrannt. Die so gewonnene Energie entspricht in etwa 200 Litern Öl. Für den Bauern rechnet sich das auch: er bekommt 60 Öre pro Kilogramm Stroh, einer dieser Riesenballen bringt umgerechnet 48 Euro. Die Asche gibt's hinterher gratis zurück und wird auf den Feldern als Dünger benutzt. Womit sich der Kreislauf schließt.

232 Haushalte sind an dieses Heizkraftwerk angeschlossen, eines von dreien auf der dänischen Insel Samsö. Sie werden nur mit Stroh betrieben. Dazu ein weiteres mit Holz- und Sonnenenergie, mehrere Windräder auf der Insel und zehn im Meer, sogenannte Offshore-Turbinen. Das reicht für den Eigenbedarf und geht sogar darüber hinaus, denn auf Samsö produzierte Energie wird inzwischen aufs Festland exportiert.

Energie aus natürlichen Quellen, wie man auf der kleinen Insel im Kattegat gerne betont, Samsö ist heute CO2-neutral. Auftrag erfüllt, denn als die Insel vor zwölf Jahren einen von der Regierung in Kopenhagen ausgeschriebenen Wettbewerb gewann, ging es genau darum: den Ausstoß an Kohlendioxid auf null zu reduzieren, ohne besondere staatliche Subventionen:

"Die Regierung wollte damals wissen, was möglich ist, mit diesen Gesetzen und Programmen, die erneuerbare Energien förderten. Das sollte mal in einer Region ausprobiert werden und Samsö gewann diesen Wettbewerb, wenn man so will. Ziel war, innerhalb von zehn Jahren nur erneuerbare Energie zu produzieren. Das war der politische Hintergrund, und dann begann die Arbeit. Wir hatten einen professionellen Energieplan, den wir auch in etwa eingehalten haben. Heute exportieren wir mehr saubere Energie, als wir fossile Brennstoffe importieren."

Sagt Jesper Kjems. Er arbeitet an der Energie Akademie in Samsö, ist dort für den Bereich Kommunikation zuständig, hält viele Vorträge und sorgt dafür, dass die Geschichte über das "kleine Ökotopia", wie es der "Spiegel" genannt hat, auch schön weitererzählt wird. Und über mangelnde Aufmerksamkeit können sich die Samsinger, so werden die Bewohner der Insel genannt, nicht beklagen.

Einer von ihnen, der 50 Jahre alte Sören Hermansen, hat es sogar zu internationaler Prominenz gebracht: Das US-Nachrichtenmagazin "Time" kürte ihn in einer Titelgeschichte zum "Helden der Umwelt". Hermansen ist Chef der Energieakademie, dort aber nur selten anzutreffen. Als "Held der Umwelt" ist er viel in der Welt unterwegs und erzählt hochrangigen Politikern die Geschichte von der selbst für dänische Verhältnisse beschaulichen Insel mit ihren gerade mal 4000 Einwohnern, von denen viele in gemütliche, reetgedeckten Häusern leben:

"Diesen Wettbewerb damals zu gewinnen, war natürlich eine große Sache für uns. Auf einmal war Samsö in den Hauptnachrichten im Fernsehen und wir mussten unser Projekt erklären. Aber die eigentliche Aufgabe war, das alles in Gang zu setzen, den Leuten hier zu erklären, welche Rolle sie dabei spielen sollten. Das war die große Herausforderung. Erdacht wurde das Projekt von Politikern und Wissenschaftler, aber durchführen sollten es die Leute in Samsö."

Die bezogen bis Ende der 90er-Jahre ihren Strom per Kabel vom Festland und zeigten sich - ihrem Naturell entsprechend - erst einmal zurückhaltend bis ablehnend. Ein besonderes ökologisches Bewusstsein, so Jesper Kjems, habe es jedenfalls nicht gegeben und die Leute seien auch heute noch nicht umweltbewusster als andere Dänen:

"Grün ist eine merkwürdige Bezeichnung, ich meine, die Felder hier sind grün, aber das heißt nicht, dass wir hier nur ökologische Landwirtschaft betrieben, obwohl es einige solcher Bauern gibt, aber im Vergleich zum Rest von Dänemark eher wenige. Worüber wir stolz sind, ist unser Energieprojekt. Du rettest keine Eisbären, wenn du hier auf erneuerbare Energien setzt, du rettest Samsö. Du willst hier Arbeitsplätze schaffen, willst, dass das Geld hier bleibt, damit es die Wirtschaft hier stärkt und du willst auch selbst was verdienen. Natürlich fühlt es sich gut an, wenn du was fürs Klima tust, aber es ist nicht die Hauptmotivation. Das Projekt muss so angelegt sein, dass die Leute auch dran verdienen können."

Der menschliche Egoismus ist also auch in energiepolitischen Fragen ein zuverlässiger Faktor. Sören Hermansen und seine Mitstreiter konnten auf den unzähligen Informationsabenden und Hausbesuchen, auf denen sie für ihre Idee warben, die ökonomischen Zweifel aber glaubwürdig zerstreuen. Denn auch in Dänemark gibt es ein Einspeisegesetz, das die Stromversorger zwingt, Windenergie zu Preisen zu kaufen, die deutlich über den Herstellungskosten liegen. So viel staatliche Subvention musste nun doch sein, und die Samsinger sind ehrlich genug zuzugeben, dass ohne dieses Gesetz die Geschichte von der Ökoinsel kaum geschrieben worden wäre:

Jesper Kjems: "Du überzeugst die Leute am besten, indem du sie einbeziehst. Also forderst du sie nicht auf, beteilige dich mal an so einer Turbine, sondern fragst, willst du nicht bei unserem Projekt mitmachen und Anteile erwerben, die jedes Jahr Gewinn abwerfen. Das ist schon überzeugender. Außerdem gibt es hier eine Mentalität, dass Geld lieber auf der Insel zu lassen. Also bezahlst du lieber einen Bauern, der das Stroh zu einem lokalen Heizkraftwerk bringt, als irgendeinen Öltanker, der vom Festland oder dem Mittleren Osten kommt."

Bevor das Projekt losging, wurde viel gerechnet. Der Stromverbrauch der Inselbewohner musste ermittelt werden und wie viel Sonne, Wind oder Biomasse nötig seien, um den Bedarf mit erneuerbaren Energien zu decken.

Heute drehen sich Elf Ein-Megawatt-Turbinen auf Samsö und produzieren zuverlässig Strom, Wind gibt es auf der Insel eigentlich immer. Fünf dieser Anlagen stehen ganz in der Nähe des Bauernhofs von Jörgen Traneberg. Er verdiene heute mehr Geld mit Strom als mit der Landwirtschaft, sagt er, und dabei hat der Mann immerhin 150 Kühe und 100 Hektar Land. Traneberg gehörte zu den ersten Bauern der Insel, die eine Lizenz für eine Windkraftanlage beantragten, steckte nach und nach 18 Millionen dänische Kronen in erneuerbare Energie, rund 2,5 Millionen Euro. Das Windrad auf seinem Hof habe sechs Millionen Kronen gekostet und sei eine sichere Investition gewesen, so Tranberg. Beim Windrad auf dem Meer aber sei er finanziell an seine Grenzen gegangen:

"Das war schon ziemlich kompliziert. Wir brauchten Fachleute und viel Geld, aber wir haben mit echten Profis zusammengearbeitet. Als die Bauarbeiten begannen, hatten wir die meisten Fragen gelöst, technische Probleme gab es dann kaum noch. Es geht mir auch nicht nur ums Geld, sondern auch darum, etwas Gutes zu tun. Und Spaß muss es machen. Wenn wir in 30 Jahren zusammensitzen und die Turbinen sind nicht mehr da, können wir sagen, weißt du noch, als wir uns damals an den Offshore-Park gemacht haben? Das waren noch Zeiten."

Er sei kein Romantiker oder langhaariger Idealist, sagt Tranberg. Viele ausländische Besucher kämen mit einem ganz bestimmten Bild hierher, von wegen Öko-Insel, deren Bewohner ein bisschen weltfremd seien. Das Gegenteil wäre richtig: Ohne einen gesunden Realitätssinn wäre dieses Projekt überhaupt nicht möglich gewesen:

"Wenn man so etwas ausgerechnet hier macht, dann muss man zu allererst die Bank wechseln. Man setzt nämlich sein Eigentum aufs Spiel, selbst den eigenen Hund, einfach alles. Das war schon ein enormes Risiko, vor allem die Windräder auf dem Meer. Wenn da etwas kaputt geht, zum Beispiel die Gangschaltung, kannst Du schon mal einen Monat warten, dass sie ausgetauscht oder repariert werden kann. Man braucht nämlich ein Boot, gutes Wetter und so weiter. Und dann gibt es Tage, an denen die Dinger einfach so stehen bleiben. Kein Mensch weiß warum und du kannst nichts tun, weil die Wellen zu hoch sind. Einmal mussten wir uns sogar einen Hubschrauber mieten, der kam aus Jütland und hatte es noch gerade vor Anbruch der Dunkelheit geschafft, alle Räder zu kontrollieren. Über 2000 Euro hat das gekostet, aber die Räder liefen wieder. Und wenn vier Räder einen Tag laufen, bekommen wir gut 10.000 Euro. Es hat sich also gelohnt."

Es lohnt sich – kein originelles, aber nach wie vor überzeugendes Argument. Denn es sei ziemlich schwer gewesen, sagt Sören Hermannsen, die Leute davon zu überzeugen, ihr Haus an die neuen Fernwärmewerke auf der Insel anzuschließen. Viele sagten, in ein paar Jahren gerne, aber noch sind wir ja mit unserer Ölheizung zufrieden. Denen hätte man geantwortet, es muss aber jetzt sein! Wenn du es jetzt machst, dann rentiert sich die Investition schon in zehn Jahren, du sparst gut zehn Prozent deiner Heizkosten. Richtig geglaubt hätten die Leute das aber erst, als sie ihre Rechnungen gesehen haben.

Mittlerweile, so Ole Henningsen, spiele der Umweltgedanke bei den Inselbewohnern aber eine viel größere Rolle als noch vor ein paar Jahren. Henningsen ist von Beruf Heizungs-Installateur und damit einer der Nutznießer des Öko-Projekts, dessen Ziel es auch war, Arbeitsplätze auf Samsö zu erhalten:

"Wir hatten hier viele Informationstreffen, bevor wir die ersten Anlagen installieren konnten. Wie bei allem Neuen waren die Leute zurückhaltend, fragten nicht nur, ob sich das auch lohnen würde, sondern auch, ob das Ganze überhaupt funktioniert. Heute fragt kaum einer mehr danach. Klar, das Finanzielle ist immer wichtig, aber die Leute finden es mittlerweile gut, mit erneuerbarer Energie zu heizen, ob das nun Sonnenenergie ist oder Biomasse. Und sie haben auch nichts gegen experimentelle Installationen, wollen immer auf dem neuesten Stand sein. Ein Heizsystem auf Solarenergiebasis ist fast schon eine Prestigefrage geworden. Man kann schon sagen, die Leute haben lieber ein paar Solarzellen mehr auf dem Dach als einen Mercedes in der Garage."

Die automobile Zukunft Samös soll als Nächstes angepackt werden. Mit Elektroautos will man auch die letzten CO2-Sünden abstellen. Und – als wenn man es geahnt hätte – auch dieses Projekt wollen die Vordenker aus der Energie-Akademie den Samsingern schmackhaft machen, indem sie darauf verweisen, dass Umweltschutz auch gut fürs Portemonnaie ist, erklärt Jesper Kjems:

"Wir wollen demnächst eine Flotte Elektro-Autos kaufen. Und die sollen nicht nur als Transportmittel ohne fossile Brennstoffe dienen, sondern auch als Stromabnehmer für unsere Turbinen. Wir könnten zum Beispiel die Autos aufladen, wenn es sehr windig ist und viel Strom produziert wird. Wenn die Technik ausgereift ist und die Leute davon profitieren, werden sie bestimmt mitmachen. Dann können sie auch mit Strom handeln. Du kaufst billig ein, um dein Auto aufzuladen und am nächsten Tag, wenn der Preis steigt, weil wir nur wenig Wind haben, kannst du den in der Batterie gespeicherten Strom wieder verkaufen, machst also Gewinn. Wenn man mit Strom handeln kann, ist man auch mit seinem Energieverbrauch viel bewusster."

Was kann die Welt von Samsö lernen? Diese Frage gehört zum festen Repertoire der Journalisten, die die Insel besucht haben, um anschließend über das "Öko-Märchen" oder "Wunder von Samsö" zu berichten. Beantworten muss sie in der Regel Sören Hermansen, eine der treibenden Kräfte hinter diesem Projekt. Ohne dessen Idealismus und Hartnäckigkeit wäre Samsö wohl immer noch ein verschlafenes Inselchen im Kattegat, mit ein paar Touristen im Sommer und viel frischer Luft. Das Wichtigste sei, erklärt Hermansen seinen lernwilligen Besuchern immer, die Menschen zu integrieren, sie an den einzelnen Entscheidungen zu beteiligen. Der Einzelne müsse sich als Teil des Ganzen betrachten:

"Ich kann Ihnen eine Geschichte erzählen, die ganz gut illustriert, was ich meine. Vor einiger Zeit war der ägyptische Botschafter in Kopenhagen hier zu Besuch und fragte, wie viele Menschen leben eigentlich in Samsö. Ich sagte, so 4000 Leute. Hm, meinte er, 4000 Leute, das sind ja nicht mehr als in Kairo in zwei Wohnblöcken leben. Eben, sagte ich, und vielleicht solltet ihr genau da anfangen. Ihr müsst die Menschen in diesen Wohnblöcken dazu bringen, ein Projekt zu definieren, dem sie sich zugehörig fühlen. Genau darum geht es, die Leute zu involvieren."

"Lokal denken, lokal handeln!", ist heute der Leitspruch der Samsinger. Das auf den großen Effekt zielende und dabei oft so unverbindliche Gerede von der globalen Verantwortung, der wir uns alle stellen müssten, überlässt man hier den Leuten, die auf der Klimakonferenz in Kopenhagen ihrem großen Auftritt entgegenfiebern. Es geht auch ein paar Nummern kleiner, ruhiger und pragmatischer, dafür aber mit vorzeigbaren Ergebnissen. Gelohnt habe sich das Energieprojekt allemal, sagt Birgit Björning vom Umwelt- und Energiebüro Samsös. Und sie meint damit nicht nur die gewinnbringende Verbindung von Ökologie und Ökonomie:

"Was für unsere Insel noch viel wichtiger ist: der Gemeinsinn wurde gestärkt. Als hier vor ein paar Jahren der Schlachthof schloss, gingen über 80 Arbeitsplätze verloren. Das hat damals die Stimmung sehr getrübt. Wenn man heute mit den Leuten spricht, dann sind sie stolz über das, was wir alle geschafft haben. Wir haben gezeigt, dass auch eine kleine Gemeinde etwas auf die Beine stellen kann in Zeiten, in denen alles immer noch größer sein muss. Und darauf können wir wirklich stolz sein."