Das Lehrstück von Duisburg

Von Peter Lange, Chefredakteur Deutschlandradio Kultur · 31.07.2010
Seit Woodstock sind Mega-Events fester Bestandteil der Freizeitindustrie geworden. Problematisch wird es, wenn ein Veranstalter nicht allein die Interessen der Teilnehmer als Kunden im Blick hat, sondern sein Event als Ganzes verkauft - etwa an eine Stadt.
Am Anfang stand eine Geschäftsidee. Aber die Veranstalter verkalkulierten sich. Es kamen viel mehr Besucher als erwartet; das Konzert verlief chaotisch. Nein, wir sprechen nicht von Duisburg. Wir reden von Woodstock 1969, der Mutter aller Events. Statt 60.000 kamen 400.000. Organisation und Logistik waren heillos überfordert. Dass niemand ernsthaft zu Schaden kam, war reine Glückssache. Nur deshalb ist Woodstock bis heute ein zentraler Mythos der Flower-Power-Bewegung.

Mega-Events dieser Art und Größe sind seither zum festen Bestandteil der Freizeitindustrie geworden; zumal in Zeiten von Großbildleinwand und Hypermobilität, in der es nur eine Frage weniger Stunden ist, mehr als eine Million Menschen an einem Ort zusammen- und wieder wegzuführen. Ob Rock am Ring, Weltjugendtag, Public Viewing oder eben Loveparade – die Organisatoren dieser Form von Alltagskultur verkaufen Spaß und Lebensfreude, ein Gemeinschaftserlebnis, einen emotionalen Kick, ein "sich selbst spüren", was vor allem die Sehnsüchte und Bedürfnisse jüngerer Leute anspricht, die in ihrem durchreglementierten banalen Alltag genau das vermissen.

Darüber können bürgerliche ältere Semester die Nase rümpfen, aber im Kern passiert in einem Konzertsaal nichts wesentlich anderes, und außerdem hat die Eventindustrie auch längst den Klassikbetrieb eingemeindet.

Großveranstaltungen sind immer riskant. Wo Zehntausende Menschen auf engem Raum zusammenkommen, bedarf es nur einer Fehleinschätzung der Organisatoren, einer spontanen falschen Entscheidung oder des Fehlverhaltens weniger Teilnehmer – und schon kann das Ganze furchtbar aus dem Ruder laufen. Deshalb dürfen in Sicherheitsfragen prinzipiell keine Kompromisse gemacht werden.

Problematisch wird es in dem Moment, in dem ein Veranstalter nicht allein die Interessen und Bedürfnisse der Teilnehmer als Kunden im Blick hat, sondern sein Event als Ganzes einem anderen Kunden, einer Stadt, verkauft. So geschehen in Duisburg und insofern ein Lehrstück. Wer sich die Berichterstattung im Vorfeld anschaut, was dank Internet nicht schwer ist, der wird registrieren: Etwas anderes als ein Superlativ, etwas anderes als die weltweit größte Party und eine Teilnehmerzahl über einer Million war überhaupt nicht denkbar.

Ein Luftbild von einem nur halb gefüllten Veranstaltungsort hätte einen Misserfolg belegt. Hier begann die Hybris – des Veranstalters und der Stadtoberen, die um fast jeden Preis etwas abhaben wollten vom Ur-Mythos Woodstock; die aber ihrerseits auch Getriebene sind. Denn das bettelarme Duisburg mit dem Ruf einer großen Industriebrache hat kulturell kaum noch etwas zu bieten. Ein Image von Coolness und Angesagtsein ist aber heute zwingend notwendiger Standortfaktor im Wettbewerb der Kommunen um Zukunftsinvestitionen.

Insofern ist auch der Oberbürgermeister eine tragische Figur. Adolf Sauerland hat bestimmt das Beste für seine Stadt gewollt, sich nun aber um seinen guten Ruf gebracht, auch dadurch, dass er den richtigen Zeitpunkt für seinen Rücktritt verpasst hat.

Denn diesmal ist es nicht gut gegangen. In Duisburg sind Veranstalter, Stadtverwaltung und Sicherheitskräfte offenkundig überfordert gewesen – bei der Organisation, am Tag der Loveparade selbst und auch bei der Aufarbeitung der Katastrophe. Es hat einen widerlichen Beigeschmack, wenn die Menschen auf dem Bahngelände jetzt immer noch als eine amorphe Masse wahrgenommen werden, deren Teilchen sich nach irgendwelchen physikalischen Gesetzen bewegen.

Am Ende sind es mehr als 20 junge Menschen mit Gesichtern und Geschichten, mit Hoffnungen und Zukunftserwartungen, die vor einer Woche den Preis für diese Hybris mit ihrem Leben bezahlt haben. Hunderte sind verletzt worden, sind allein durch die empfundene Todesangst für ihr Leben gezeichnet. Und wenn heute in Duisburg an die Toten der Loveparade erinnert wird, dann sollte das auch der Moment sein, um einen Schritt zurückzutreten und innezuhalten. Es geht auch ein paar Nummern kleiner. Oder ganz altmodisch gesagt: Es gilt, sich auf ein menschliches Maß zu besinnen.
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