Das Leben als Karussell

Der amerikanisch-österreichische Komponist und Musikschriftsteller Ernst Krenek
Der amerikanisch-österreichische Komponist und Musikschriftsteller Ernst Krenek © picture alliance / dpa / Herold
Rezensiert von Oliver Hilmes · 31.03.2013
Der Komponist Ernst Krenek liebte das Leben. Er heiratete schneller, als er denken konnte, stürzte sich in den Kölner Karneval und komponierte sage und schreibe 370 Musikstücke. Seine erneut herausgegebenen Erinnerungen zeugen von seiner Arbeitswut.
Der Komponist Ernst Krenek war ein überaus fleißiger Mann. Als er im Dezember 1991 im kalifornischen Palm Springs starb, hinterließ er ein Werkverzeichnis, das seinesgleichen sucht. Er brachte es in 91 Lebensjahren auf sage und schreibe 370 Musikstücke. Von der dreiminütigen "Doppelfuge für Klavier" aus dem Jahre 1917 bis zur "Suite für Mandoline und Gitarre" aus dem Jahre 1988 gibt es wohl keine Gattung, die Krenek nicht bedient hat. Er war ein Workaholic, als es diesen Begriff noch gar nicht gab.

Ernst Krenek hat nicht nur viel und leicht komponiert, sondern auch gern und reichlich geschrieben. Das war offensichtlich Teil seines Selbstverständnisses, sich immer auch als einen Mann der Feder, als einen Intellektuellen zu betrachten. Krenek war in der "Weimarer Republik" zeitweilig Mitarbeiter der liberalen "Frankfurter Zeitung", später arbeitete er für die "Wiener Zeitung", die im Austrofaschismus staatstragend war, und trat auch als Essayist in Erscheinung.

Vom Wien der Jahrhundertwende bis zum Jahr 1938
Zwischen 1942 und 1952 brachte er schließlich seine über 1000-seitige Autobiographie zu Papier. Dieses Mammutwerk wurde erstmals 1998 unter dem Titel "Im Atem der Zeit" veröffentlicht, war dann einige Jahre vergriffen und erscheint jetzt in einer schönen Neuausgabe im Braumüller Verlag. Zeitgleich kommt ein Hörbuch mit den – wie es verlagsseitig heißt – "schönsten Auszügen" in den Handel, die der bekannte Schauspieler Cornelius Obonya mit Wiener Zungenschlag auf sechs CDs liest.

Wer Ernst Kreneks Memoiren zur Hand nimmt, darf keine lebensumfängliche Autobiographie erwarten. Seine "Erinnerungen an die Moderne", wie das Buch im Untertitel heißt, beginnen im Wien der Jahrhundertwende und enden mit seiner Emigration im Jahre 1938. Zu diesem Zeitpunkt war Krenek noch keine 40 Jahre alt und hatte noch vier weitere Lebensjahrzehnte vor sich.

Mitten im Ersten Weltkrieg begann er als 16-Jähriger sein Kompositionsstudium bei dem berühmten Franz Schreker an der Akademie für Tonkunst. Ihm folgte er an die Spree. Dort traf er mit den Pianisten Artur Schnabel, Ferruccio Busoni und Eduard Erdmann, dem Komponisten Paul Hindemith, dem Dirigenten Hermann Scherchen und vielen anderen mehr oder weniger prominenten Künstlern zusammen.

Krenek konnte granteln und giften
Krenek war ein guter Beobachter und besaß das Talent, die kleineren und größeren Eitelkeiten seiner Zeitgenossen zu erkennen und pointenreich zu demaskieren – so eine Einladung bei Ferruccio Busoni:

"Wir wurden zu den berühmten Nachmittagssitzungen zugelassen, die der Meister in seiner bescheidenen und zugleich großartigen Wohnung am Viktoria-Luise-Platz abhielt. Busoni saß am Kopf der Tafel, schlürfte Kaffee aus einer sehr großen Tasse, während die Gäste, die sich um den Tisch drängten – in angemessener Entfernung von dem großen Mann –, das gleiche Getränk in ganz kleinen Gefäßen serviert bekamen."

Krenek schreibt detailreich ohne zu langweilen, witzig ohne belanglos zu sein und selbstironisch ohne kokett zu erscheinen. Dabei war er ein Wiener - und zwar gründlich! Er konnte granteln und giften, er machte aus persönlichen Vorlieben und Abneigungen keinen Hehl und aus seinem Herzen keine Mördergrube. Über den Dirigenten Hermann Scherchen schrieb er etwa:

"Sein geistiger Horizont war mehr oder weniger der eines Mitglieds der proletarischen Jugendbewegung, eine Mischung von pseudoromantischen Vorstellungen wie Gitarrespielen am Lagerfeuer, mit flachsblonden Mädchen auf dem Heuwagen fahren, und blutrünstigen Absichten, wie Barrikaden besteigen und fetten Bankiers die Bäuche aufschlitzen."

Jazzoper "Johnny spielt auf" brachte den ersehnten Durchbruch
Ernst Kreneks Lebensweg führte weiter quer durch die Weimarer Republik zu den Donaueschinger "Tagen für Neue Musik", wo der junge Komponist einen tödlich gelangweilten Richard Strauss kennen lernte, durch die Schweiz, nach Frankreich, zurück nach Deutschland und immer wieder zu den Eltern nach Wien.

Krenek heiratete schneller als er sich verlieben konnte, die Scheidungen folgten meistens nach kurzer Zeit. Seine erste Ehe schloss er mit Gustav und Alma Mahlers Tochter Anna. Die Uraufführung der Jazzoper "Johnny spielt auf" brachte den ersehnten Durchbruch und viel Geld, wovon nicht viel übrig blieb.

Krenek stürzte sich lieber mit seinem Freund Eduard Erdmann in den Kölner Karneval, trank mit dem Pianisten um die Wette, machte die Nacht zum Tage, um sich kurz darauf in ein weiteres Abenteuer oder in eine neue Ehe einzulassen oder zwischendurch in kürzester Zeit eine abendfüllende Sinfonie zu Papier zu bringen.

Ernst Kreneks Autobiographie ist ein faszinierender Einblick in die kulturelle Blütezeit der zwanziger und dreißiger Jahre. Es ist ein einzigartig maßloses Buch: dick und sinnlich, amüsant und fesselnd – Pflichtlektüre für alle, die an dieser Epoche interessiert sind. Über seine zeitweilige Schwiegermutter Alma Mahler-Werfel schrieb er:

"Sie hatte das Zeug dazu, das Leben zu einem schwindelerregenden Karussell zu machen."

Diese Fähigkeit hatte er sich zweifellos bei ihr abgeschaut.

Ernst Krenek: "Im Atem der Zeit. Erinnerungen an die Moderne"
Braumüller Literaturverlag, Wien 2012
1234 Seiten, 24,90 Euro


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