"Das Land ist richtig auseinandergerissen"

Moderation: Katrin Heise · 16.07.2008
Jan Hoet, künstlerischer Berater des belgischen Könighauses, macht die Politik für die Krise des Landes verantwortlich. "Die erste Spaltung war der Minister für Kultur – Minister für Kultur in Flandern, Minister für Kultur in Wallonien", sagte Hoet. Eine Brücke sei nie zustande gekommen.
Katrin Heise: Die Wallonen sprechen französisch, die Flamen niederländisch. Was außerhalb Belgiens der Sprachenstreit genannt wird, das ist weit mehr. Belgien zerfällt auch rein geografisch in zwei Hälften. Politisch hat man versucht, es mithilfe von fünf Staatsreformen in den letzten knapp 40 Jahren in den Griff zu bekommen. Belgien ist ein föderaler Staat. Aber es funktioniert wohl nicht. Für die letzte Regierungsbildung hat man über ein halbes Jahr gebraucht und ist nun wiederum an der Neuordnung staatlicher Zuständigkeiten gescheitert. Die zwei Sprachgemeinschaften konnten kein neues Gleichgewicht herstellen, so drückte es der zurückgetretene Premier Leterme aus. Was ist da los? Ich begrüße jetzt den Kunstkurator Jan Hoet. Er ist im flämischen Löwen geboren, leitet zurzeit das MARTa, das Museum für zeitgenössische Kunst und Design Herford. Er war für die Documenta neun 1992 zuständig. Er besitzt mehrere belgische Ritterorden und ist künstlerischer Berater des belgischen Königshauses. Herr Hoet, ich grüße Sie!

Jan Hoet: Guten Tag!

Heise: Sie rühmten in einem Interview mal das anarchische Element der Belgier, das Leben ohne Gebrauchsanweisung, wie Sie es nannten, läuft das jetzt auf Selbstzerstörung hinaus?

Hoet: Das ist natürlich die Frage eigentlich. Ab und zu hört man in Belgien, umso schlechter es geht mit der Regierung, umso besser es mit den Belgiern geht. Das ist natürlich ein unglaublicher, widersprüchlicher Ausdruck. Nicht zu vergessen, Belgien ist so ein Land, das bei (…) geboren ist als Land. Und anfänglich war das ein Land, wirklich, wo zwei Sprachen waren, überwiegend Französisch, dann ist das Flämische gekommen mit Justiz usw. und Unterricht. Dann ist es gespalten worden. Und jetzt haben sich die Probleme so auseinanderentwickelt, dass es wirklich zwei verschiedene Kulturen gibt. Zwei verschiedene Ethntitäten, die man immer versucht zu versöhnen.

Heise: Wie leben denn die Belgier in ihrem Alltag, sage ich mal, mit diesem Widerspruch, der das Land ja tatsächlich auch zu zerreißen droht?

Hoet: Ich denke, dass man einen Unterschied machen muss zwischen der Bevölkerung im Allgemeinen, den größten Bevölkerungsgruppen. Die fühlen sich alle belgisch, obwohl die immer nicht genau wissen, was die Identität von Belgien bedeutet.

Heise: Das heißt, wenn man jemanden auf der Straße fragt, woher kommst du oder wer bist du, würde er nicht sagen, ich bin flamisch, ich bin Wallone, sondern er würde sagen Belgier?

Hoet: Nein, wir sind alle Belgier. Und sicher in der Kunstwelt, Leute mit Kultur, Intellektuellen, die sagen alle, wir sind Belgier. Und dann gibt es eine Reihe von Leuten, die mehr und mehr separativ denken und die sagen dann, ich bin aus Flandern. Und es gibt schon hier und da, sieht man schon, die flämische Fahne und sieht man in Wallonien den Hahn, die Fahne ist von Wallonien. Aber das ist sehr selten. Meistens sind wir alle Belgier. Das Problem ist nur, wie man das finanziell, wirtschaftlich lösen muss. Die Wirtschaft in Flandern ist stärker in diesem Moment als in Wallonien. Die Arbeitslosen sind mehr in Wallonien. Und deswegen gibt es immer in diesem föderalen Staat immer diese Probleme. 50 Prozent geht nach Flandern, 50 Prozent geht nach Wallonien. Wenn ein Kilometer Autobahn in Flandern gemacht wird, bauen wir auch ein Kilometer Autobahn in Wallonien. Immer nur ein Versuch, dieses Arbeitslosenproblem zu lösen.

Heise: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, dann geht am Ende wie üblich irgendwie am Geld die Freundschaft zugrunde.

Hoet: Ja, das Schlimme.

Heise: Aber Sie sind einer der wenigen, die das tatsächlich als eine Art Freundschaft auch beschreiben. Man hat, wenn man sonst sich so umhört, eigentlich eher den Eindruck, dass die Leute sich doch eher als Flamen und Wallonen identifizieren?

Hoet: Das ist nicht so. Wir sind richtig Belgier. Das Problem ist, dass die Politik diese Spaltung mehr und mehr macht. Und das kommt, weil sie diese Lösung von 50 Prozent nicht richtig klar machen können, weil Flandern hat sechs Millionen Einwohner zum Beispiel und Wallonien hat vier Millionen Einwohner. Und trotzdem ist es 50 Prozent. Und wenn der Hafen in Antwerpen tiefer gemacht wird usw., dann muss so viel Geld nach Wallonien gehen. Und das ist immer dieser Streit, den man nicht gelöst kriegt. Und was auch noch falsch gelaufen ist in der letzten Zeit, die Medien in Flandern berichten nur über das, was in Flandern geschieht, sehr chauvinistisch. Und die Wallonen sprechen nur über das, was in Wallonien stattfindet. Und auf diese Weise bekommen wir eigentlich keine Informationen. Flandern nicht von Wallonien, Wallonien nicht von Flandern. Das Land ist richtig auseinandergerissen, aber nicht durch die Bevölkerung. Das ist der Widerspruch.

Heise: Sie hören das "Radiofeuilleton". Der Konflikt in Belgien aus Sicht von Jan Hoet, Kunsthistoriker und Kurator. Wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Hoet, muss eigentlich nur der kleine Mann von der Straße mal irgendwie das Sagen bekommen? Wie soll das passieren?

Hoet: Das weiß ich nicht, wie das geht. Wir leben in einer Welt, wo man kaum noch denkt, dass eine Revolution gelingt. Das ist es, sind alle passiv geworden, neutral, flach, individuell und auf diese Weise, um das zu realisieren, ich weiß nicht, wie das geht. Und ich denke nicht, dass die Politik das lösen kann, solange man jetzt nicht entscheidet, dass eigene Befugnisse für Flandern entstehen und eigene Befugnisse für Wallonien. Obwohl Wallonien das nicht will, natürlich, weil die auf diese Weise ihren Verlust erkennen müssen.

Heise: Was meinen Sie, wenn Sie sagen, dass eine gewisse Eigenständigkeit notwendig ist?

Hoet: Ich denke, die Eigenständigkeit ist notwendig, um eine stabile Regierung zu bekommen. Das denke ich. Nur deswegen.

Heise: Wie weit soll diese Eigenständigkeit gehen? Mit eigenen Befugnissen?

Hoet: Mit eigenen Befugnissen. Nicht alleine föderal sehen. Was die Justiz betrifft, was Unterricht betrifft, was auch die Wirtschaft betrifft, müssen Eigenständigkeiten entstehen, Zuständigkeiten entstehen in Flandern, die, wie soll ich sagen, anders verlaufen als in Wallonien. Und die Bedürfnisse in Wallonien sind auch verschieden. Die Bedürfnisse in Flandern sind total unterschiedlich mit denen von Wallonien.

Heise: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist die Künstlerszene Belgiens ja eigentlich nicht getrennt. Ist es eine einige Kunst?

Hoet: Ja, das ist richtig. Die Künstlerszene, die fühlen sich alle, vielleicht mit einer Ausnahme auf 100, sind alle einverstanden, wir sind Belgier.

Heise: Kann oder muss die Kunst eine Brücke sein zwischen den Bevölkerungsgruppen?

Hoet: Das könnte sein. Übrigens, wir tun auch noch was ran, in Museen usw., um diese Einheit in Belgien zu behalten. Das Problem ist nur, wenn man in Flandern eine Aufstellung macht mit einem wallonischen Künstler, dann bekommt man keine Subventionen. Warum nicht? Wallonien sagt, das ist ein Museum in Flandern und in Flandern sagt man, es ist ein wallonischer Künstler.

Heise: Da verstehe ich dann aber tatsächlich nicht, wo ist dann das Gemeinsame? Das scheint ja doch bis ins Tiefste gespalten zu sein?

Hoet: Mental. Ja, mental ist das Gemeinsame. Die Künstler untereinander sind einverstanden. Aber die Subventionen muss man dann suchen irgendwo anders als zum Beispiel föderal oder mit der flämischen oder wallonischen Gemeinschaft.

Heise: Das heißt, das gemeinsame Leben von Belgiern ist doch irgendwie durch Ihre von Ihnen gewählten Politiker unglaublich kompliziert gemacht worden?

Hoet: Es ist kompliziert gemacht worden, weil man hat angefangen in Belgien. Die erste Spaltung war der Minister für Kultur, Minister für Kultur in Flandern, Minister für Kultur in Wallonien. Und die Brücke ist nie zustande gekommen. Das ist das Problem, in der Tat.

Heise: Politisch versucht man ja, dem Konflikt irgendwie Herr zu werden, in dem man alles irgendwie versucht, fünfzig-fünfzig zu verteilen, wie Sie es ja auch beschrieben haben.

Hoet: Ja, ich denke doch. Das Problem ist, man hat die Spaltung nur getan aufgrund der Sprache. Und ich finde, dass das eine Beschränkung ist. Ein Land auf seine Sprache spalten, das finde ich absolut idiotisch.

Heise: Welche Sprache hört man denn meistens auf den Straßen, zum Beispiel in Brüssel?
Hoet: In Flandern flämisch, in Brüssel meistens französisch, in Wallonien französisch. Und dann hat man noch einen kleinen Teil Deutsch, 600.000 Leute in (…) die Region an der deutschen Grenze.

Heise: Für Nichtbelgier ist Brüssel ja sozusagen die Hauptstadt Europas, eines sich einigenden Europas. Und das in einem, man muss ja schon fast sagen, zerfallenen Land, jedenfalls politisch gesehen. Was ist Brüssel eigentlich für die Belgier?

Hoet: Dort liegt genau das Problem. Wenn wir über eine mögliche Spaltung sprechen, dann weiß niemand in Belgien, was mit Brüssel geschieht. Weil Brüssel wurde entweder nicht durch die Flamen, sicher nicht nur die Flamen, als die Hauptstadt
gesehen. Brüssel ist auf die Hauptstadt von Europa, nicht von Belgien.

Heise: Alles in allem bleibt Belgien ein Land ohne Gebrauchsanweisung?

Hoet: Ja, wenn man es so sieht, wunderbar. Für ein Individuum ist es wunderbar, aber nicht für die Bevölkerung im Allgemeinen.

Heise: Verzweifeln Sie manchmal in Ihrer Heimat?

Hoet: Ich gehe gerne zurück, weil man in Belgien sehr gut isst, eine Hospitalität kennt, die man nirgendwo anders so gut kennt, freundlich ist, gute Bäcker hat. Alles, was paradiesisch in dieser Welt noch ist, das kann man in Belgien zurückfinden.

Heise: Alles gute Gründe, um Belgier zu sein. Der flämisch-wallonische Konflikt aus Sicht des Kunsthistorikers und Kurators Jan Hoet. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch!