"Das lässt sich mit einem Gesetz nicht mit einem Federstrich lösen"

Giovanni Maio im Gespräch mit Joachim Scholl · 27.05.2009
Der Bioethiker Giovanni Maio hat davor gewarnt, die Bedeutung eines Gesetzes über die Patientenverfügung zu überschätzen. Der Professor für Bioethik und Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg sagte, es sei eine Illusion, zu glauben, der letzte Abschnitt des Lebens ließe sich völlig kontrollieren. "Das lässt sich mit einem Gesetz nicht mit einem Federstrich lösen"
Joachim Scholl: Acht Millionen Menschen haben in Deutschland eine Patientenverfügung unterschrieben, das heißt, schriftlich niedergelegt, was zu tun ist, wenn sie durch Krankheit oder Unfall nicht mehr in der Lage sind, selbst zu entscheiden. Seit Jahren wird nun schon über ein entsprechendes Gesetz diskutiert, morgen nun wollte man im Bundestag endlich darüber befinden, doch man hat den Termin erneut verschoben, weil sich wohl abgezeichnet hat, dass man sich nicht auf einen Gesetz würde einigen können. Am Telefon begrüße ich nun Professor Giovanni Maio. Er lehrt Bioethik und Medizingeschichte in Freiburg. Guten Morgen, Herr Maio!

Giovanni Maio: Guten Morgen, Herr Scholl!

Scholl: Acht Millionen Menschen haben quasi ihren letzten Willen in dieser Form der Patientenverfügung kundgetan, Herr Maio, und im Grunde fühlt sich mittlerweile ja jeder dazu aufgerufen, zumindest darüber nachzudenken. Was ist da eigentlich passiert in den letzten Jahren, dass dieses Thema uns so ergreift?

Maio: Ja, zunächst einmal ist es ja zu begrüßen, wenn Menschen darüber nachdenken, wie sie denn sterben wollen. Auf der anderen Seite ist natürlich oft der Eindruck entstanden, als wäre es möglich, den letzten Abschnitt des Lebens so zu kontrollieren, dass vorher alles abgeklärt werden kann. Ich denke, das ist eine Illusion. Aber letztlich rührt die Diskussion letztlich auch aus der Angst vieler Menschen heraus, dass sie, wenn sie in die Klinik kommen, sie dann entmachtet sind, dass sie letztlich dann an Apparate angeschlossen werden und Behandlungen unterzogen werden, die nicht mehr sinnvoll sind. Das ist eine Angst vieler Menschen von heute.

Scholl: Ich meine, dieses Argument, das hat ein jeder von uns, denke ich, sofort parat. Also ich möchte nicht hilflos an Infusionsschläuchen hängen, an Maschinen, die mein Leben dann kontrollieren. Ich meine aber, diese Vorstellung, das ist ja eine Art kollektives Trauma geworden, gegen das man instinktiv prophylaktisch vorgehen möchte. Das ist doch ein zutiefst verständlicher Impuls?
Maio: Ja, der Impuls ist verständlich, die Angst ist zum Teil ja auch berechtigt, weil es immer noch viele Ärzte gibt, die zum Beispiel sagen, die Patientenverfügung, die interessiert mich nicht. Das sind natürlich Missstände. Aber es stellt sich eben die Frage, wie man auf diese Missstände reagieren soll. Und ich denke, es ist eben sehr wichtig, dass man verdeutlicht, dass der Patient als einzigartiges Wesen in der Klinik letztlich selbst immer wird bestimmen, was mit ihm geschehen wird, und die Medizin sich natürlich nicht über den Patienten hinwegsetzen darf. Das sind Grundrechte des Menschen, die man verdeutlichen muss, die man auch in der Ausbildung verankern muss, dieses Bewusstsein. Das sind ja keine neuen Probleme, die wir haben.

Scholl: Aber insofern wäre doch die Patientenverfügung durchaus als Fortschritt zu sehen im Sinne einer größeren Autonomie des Individuums, das also selbstbestimmt entscheidet auch über ein womöglich elendes Finale?

Maio: Ja, wenn man bedenkt, dass der Ursprung dieser Diskussion die Angst vieler Menschen ist, dann muss man schon fragen, wie kann man denn diese Angst denn letztlich behandeln? Und ich denke, es ist eben wichtig, dass der Mensch, auch der moderne Mensch, ein neues Vertrauen in die Medizin gewinnt. Und da muss man investieren in eine humane Medizin. Man muss investieren in eine Beziehungsmedizin. Man muss investieren in eine Atmosphäre in den Kliniken, die dem Menschen nicht mehr suggeriert, dass wenn man da hinkommt, man dann eigentlich entmachtet sein wird. Also letztlich ist ja der Wunsch, die Patientenverfügung als Lösung dieser Probleme zu nehmen, ist ja Ausdruck einer Angst, die ansatzweise verständlich ist, aber wer zugibt, dass die gesamte Medizin wiederum manchmal auch irrationale Züge annimmt.

Scholl: Das heißt, Autonomie wäre in diesem Fall gar keine, sondern eher so ein Handeln aus Zwang?

Maio: Also wenn Menschen natürlich Angst haben, muss man schauen, wie geht man mit dieser Angst um, wie behandelt man diese. Und ich denke, dass das natürlich schon ein Schlag ins Gesicht der modernen Medizin ist, die das Vertrauen verspielt hat. Und das erscheint mir sehr viel wichtiger, in den Aufbau eines neuen Vertrauensverhältnisses zur Medizin letztlich zu investieren. Dazu kann die Patientenverfügung natürlich auch ein sinnvoller Beitrag sein, aber ich würde davor warnen, zu sehr darauf zu setzen.

Denn man kann natürlich Patientenverfügungen ausstellen, aber es bleibt immer noch die Interpretationsbedürftigkeit, es bleibt immer noch die Auslegungsbedürftigkeit dieser Verfügungen. Das lässt sich mit einem Gesetz nicht mit einem Federstrich lösen. Es sind sehr schwierige Situationen, die, meine ich, dann gut gelöst werden können, wenn miteinander gesprochen wird. Vorher über das sprechen, über das Sterben, aber auch in dieser konkreten Situation mit den Angehörigen, mit den Ärzten, mit allen, die damit zu tun haben.

Scholl: Ein Gesetz zur Patientenverfügung steht an oder auch nicht. Im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ist Giovanni Maio, Professor für Bioethik an der Uni Freiburg. Gemessen an dieser grundsätzlichen Skepsis, die Sie gegenüber der Patientenverfügung hegen, Herr Maio, wäre es dann ja egal, ob im Bundestag ein Gesetz zustande kommt oder nicht, es müsste ja dann so oder so scheitern, oder?

Maio: Das würde ich so nicht sagen, nein. Es ist eben sehr wichtig, dass wir uns darüber verständigen, wie wir in unserer Gesellschaft doch mit sterbenden Menschen umgehen. Und was ich sehr schade finde, ist, dass letztlich auch über diese Diskussion ein Stück weit suggeriert wird, als wäre die letzte Lebensphase ohnehin sinnlos, als wäre es ohnehin besser, wenn man ab dem Moment, da man in Abhängigkeitsverhältnisse zu anderen tritt, man dann eigentlich dieses Leben lieber nicht mehr lebt. Und ich glaube, ein Stück weit ist doch eine Geringschätzung dieses finalen Lebens verbunden.

Und dagegen muss man sich in ethischer Hinsicht schon wehren und sagen, jede Lebensphase, und erst recht die des Sterbens, ist in sich sinnvoll, hat eine tiefere Sinndeutung, als viele Menschen wahrhaben wollen. Man kann also nicht leben und sagen, aber wenn ich denn dann mal später abhängig sein werde von anderen, dann möchte ich lieber gar nicht mehr sein. Das kann jeder für sich bestimmen, aber es ist natürlich ein Verlust an einer Kultur des Sterbens, die ich doch sehr kritisiere und bemängele.

Scholl: Wenn wir jetzt auf die andere Seite schauen, auf die Seite der Mediziner. Man kann natürlich jeden Arzt verstehen, dass er Rechtssicherheit verlangt. Es hat einige Gerichtsprozesse gegeben, die Ärzten die Existenz gekostet haben, weil sie nach Meinung der Richter die Patientenverfügung falsch ausgelegt haben. Also allein vom juristischen Standpunkt aus gesehen – und Sie sind auch Mediziner, Herr Maio –, wäre nicht ein solches Gesetz auch gerade für die Ärzte ganz notwendig?

Maio: Zunächst einmal muss man ja doch festhalten, das geht in Diskussionen ja immer durcheinander, man muss festhalten, dass die Patientenverfügung heute verbindlich ist. Und wenn es kein Patientenverfügungsgesetz gibt, heißt das ja nicht, dass deswegen diese sieben, acht Millionen Patientenverfügungen keine Verbindlichkeit hätten. Das ist grundlegend falsch. Diese haben Verbindlichkeit, das ist auch vom Bundesgerichtshof her 2003 auch so entschieden worden. Also ein Arzt, der da sagt, Patientenverfügungen interessieren mich nicht, der handelt sogar illegal, und da muss man auch darin investieren, dass dieses Bewusstsein noch mal verstärkt wird in der Ausbildung.

Ob wir jetzt ein Gesetz haben oder nicht, das ändert nichts an dieser Verbindlichkeit, das ändert nur daran, welche Bedingungen man noch zusätzlich formuliert für die Umsetzung. Und ich denke, das sind sehr, sehr schwierige Entscheidungen. Ich würde sagen, dass man heute als kranker Mensch sicher sein kann, dass die Autonomie das zentrale Gut ist, und mit oder ohne Patientenverfügung bleibt die Selbstbestimmung des Patienten das zentrale Merkmal der Behandlung von Menschen auch am Ende ihres Lebens. Und man darf nicht so tun, als wäre ohne Patientenverfügungsgesetz diese Selbstbestimmung gar nicht mehr gegeben. Das ist ein Irrtum.

Scholl: Dieser gesetzliche Streit, der dreht sich im Wesentlichen um die unterschiedlichen Positionen zweier Fraktionen. Die eine will die Patientenverfügung darauf beschränken, wenn der Betroffene an einer schweren Krankheit, an einer unheilbaren Krankheit leidet, dass er erst dann diese Verfügung treffen kann.

Und die andere Fraktion will diese Befugnis auch auf den gesunden Menschen ausdehnen, der eindeutig festlegen dürfen soll, was später mit ihm geschieht, wenn er nicht mehr bei Bewusstsein ist. Herr Maio, wenn Sie jetzt im Bundestag das Wort ergreifen dürften – und die Debatten werden jetzt in den nächsten Wochen noch weitergehen, weil das Gesetz ja erst mal verschoben ist –, was würden Sie sagen?

Maio: Na, ich würde sagen, dass man doch den Menschen verdeutlichen muss, a) dass eine Patientenverfügung nicht die notwendige Bedingung ist für ein gutes Sterben. Also das wäre doch ein Verlust an einer Sterbekultur, wenn alle Menschen denken würden, jetzt brauche ich unbedingt eine Verfügung, damit ich gut sterben kann. Also auch ohne Verfügung wird man in einer guten Medizin gut sterben können. Dazu muss man aber in die Medizin investieren, in die Humanität der Medizin.

Und letztlich meine ich, muss man sich früh genug mit dem Sterben auseinandersetzen, man muss in Gespräche treten und auch die Deutung, die Ausdeutung einer Patientenverfügung ist doch nur dann wirklich gut möglich, wenn das ganze soziale Umfeld mit einbezogen wird. Also ich würde doch sagen, es ist doch viel leichter, jetzt einen Bevollmächtigten zu benennen, jemanden zu benennen, den man dann fragen kann, mit dem man sich austauschen kann, also im Vorhinein genau festzulegen, so und nicht anders. Und dann kommt’s aber doch ganz anders, und dann sind alle ratlos. Ich würde davor warnen, mit einem Schriftstück zu meinen, dass man da alle entstehenden Probleme am Ende des Lebens gelöst haben wird. Das ist eine Illusion.

Scholl: Über ein Gesetz zur Patientenverfügung wird morgen im Bundestag nicht abgestimmt. Der Ausgang ist offen. Das war Giovanni Maio, Professor für Bioethik und Medizingeschichte aus Freiburg. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Maio: Ich danke Ihnen, Herr Scholl!