"Das kränkt und verletzt die Familien"

Christina Hey im Gespräch mit Ute Welty · 05.08.2010
Christina Hey, Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte in Hessen, lehnt es ab, die Neuregelung von Hartz IV-Leistungen für Kinder über ein Gutscheinsystem abzuwickeln. Damit würden Eltern unter einen Generalverdacht gestellt, sagte Hey.
Ute Welty: Die Kirchen wollen eine Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze, die CDU-Bundestagsabgeordnete Ingrid Fischbach findet es unchristlich, die Sätze anzuheben und dafür neue Schulden zu machen, und der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle ist gegen eine spürbare Anhebung, was immer das heißen mag. Drei Meinungen von vielen, und jetzt kommt eine vierte dazu, und zwar eine praxisgestützte: Christina Hey ist die Geschäftsführerin des Arbeitskreises Soziale Brennpunkte in Marburg - guten Morgen, Frau Hey!

Christina Hey: Guten Morgen, Frau Welty!

Welty: Wie positionieren Sie sich denn in dieser Frage, Anhebung ja oder nein und Gutschein ja oder nein? Es sind eigentlich zwei Fragen muss ich zugeben.

Hey: Also, was die Höhe der Hartz-IV-Summe angeht, sind wir auf jeden Fall für eine Anhebung, weil wir erleben das hier in unserer Praxis, dass es einfach zu wenig ist für die Familien, um über die Runden zu kommen.

Welty: Und bei der Gutscheinfrage?

Hey: Bei der Gutscheinfrage finde ich, also muss man zwei Sachen bedenken. Das ist eine ist, was ich richtig finde bei dieser Gutscheindebatte, ist, dass anscheinend die Regierung erkannt hat, wie wichtig Bildung und kulturelle Teilhabe für die Kinder ist - das ist auch für uns ein ganz wichtiges Anliegen -, und auch erkannt hat, dass Bildung und kulturelle Teilhabe einfach auch finanzielle Mittel erfordert.

Welty: Und Sie dann schon dafür, dass das Geld sozusagen dann auch gebunden ist an dieses Ziel, an diesen Zweck?

Hey: Nein, das würde ich dann wieder nicht sagen, denn für mich ist das … Das ist zwar auf der einen Seite richtig, dass die Bedeutung erkannt worden ist, was damit aber auch verbunden ist, ist natürlich einfach die Aussage, dass den Menschen nicht zugetraut wird, mit dem Geld umzugehen. Und das kränkt und verletzt die Familien, das diskriminiert sie und grenzt sie aus, und letztendlich bestraft es auch Familien oder Eltern, die ihren Arbeitsplatz verloren haben und deshalb in Hartz IV sind.

Welty: Also das Prinzip des Gutscheins finden Sie gut, aber nichtsdestotrotz sind Sie für eine Barauszahlung, kann man das so zusammenfassen?

Hey: Nein, ich würde es anders sagen: Ich finde eine Erhöhung gut, aber ich würde das nicht in Gutscheinform machen.

Welty: Okay, jetzt haben wir es klar. Wie groß ist denn Ihrer Meinung nach das Risiko, dass das Geld zum Beispiel für die Kinder von Hartz-IV-Empfängern gar nicht bei diesen Kindern ankommt, wenn man es denn in Form einer Barauszahlung macht?

Hey: Meines Erachtens ist das sehr gering. Also wir sind hier Träger einer Kindertagesstätte, und wir stellen fest, dass … und wir sind hier ein Stadtteil mit Menschen mit geringem Einkommen, auch mit vielen Hartz-IV-Beziehern, und die Eltern schicken ihre Kinder in die Kindertagesstätte. Also das ist für mich ein Zeichen dafür, dass ihnen Bildung was wert ist, dass sie das wichtig finden. Es gibt natürlich auch Familien unter Hartz-IV-Empfängern, die also wenig Zugang zu Bildung haben, aber da ist das Problem allein auch nicht mit Finanzen zu lösen.

Welty: Wie könnte man denn diese Kinder anders fördern, abgesehen vom Geld, ob jetzt in bar oder in Gutscheinform?

Hey: Also Geld ist auf jeden Fall notwendig, aber dazu muss eben auch kommen, dass Brücken gebaut werden zwischen den Familien und den Institutionen, also Brücken zwischen Schulen und Kinder …, also Kindergärten und Familien, Brücken zwischen Vereinen, Musikschulen und Familien, um überhaupt so ja Zugangsschwellen abzubauen. Das ist ganz wichtig.

Und was auch meines Erachtens wichtig ist, ist natürlich, dass es eine Akzeptanz gibt für die Familien von den Einrichtungen. Und da denke ich mir, das wird nicht durch dieses Gutscheinsystem erhöht, sondern da ist ja schon so ein Generalverdacht drin, dass die Eltern eben das Geld lieber anders ausgeben, und wenn die Politik den Generalverdacht hat, weshalb sollten dann die Institutionen offen sein.

Welty: Wenn wir jetzt noch mal den Blick wenden auf das große Ganze in der Diskussion, tut sich ja ein riesiger Zwiespalt auf. Auf der einen Seite hat Deutschland noch nie so viel Geld ausgegeben für Sozialleistungen, auf der anderen Seite gibt es eben diese gefühlte Gerechtigkeitslücke, dass Menschen ausgegrenzt werden, nicht mehr teilnehmen können. Sehen Sie eine Möglichkeit, diesen Zwiespalt zu überwinden?

Hey: Also einen ganz wichtigen Aspekt finde ich, dass man sozusagen die Menschen nicht unter einen Generalverdacht stellt. Ich glaube, das ist so, was das Empfinden angeht der Ungerechtigkeit, dass den Menschen mit wenig Einkommen unterstellt wird, sie könnten nicht mit Geld umgehen, sie müssten vorgeschrieben kriegen, wie sie ihr Geld ausgeben, und dass die Leute, die sag’ ich mal gezeigt haben in letzter Zeit, dass sie nicht mit Geld umgehen können, auf der anderen Seite eine hohe gesellschaftliche Anerkennung kriegen. Und dass man da ein bisschen sauer drüber ist, ist, denke ich, verständlich.

Welty: Haben Sie den Eindruck, dass die Politiker und Experten wissen, wovon sie reden und worüber sie entscheiden?

Hey: Das glaube ich nicht, weil ich denke, wenn sie, also wenn man gerade jetzt diese Diskussion um diese Gutscheine weiterverfolgt, auf den ersten Blick mag das reizvoll zu sein zu sagen, gut, dann kommt das Geld da an, wo es hingehört, aber wenn man sich die Sache genauer überlegt, denke ich mir, dann muss man dazu kommen, dass es nicht die richtige Lösung ist.

Und da wünsche ich mir eigentlich, dass die Politiker auch mehr mit den Menschen selber sprechen und vielleicht auch mit uns Praktikern, weil ich denke, das könnte die Entscheidungen positiv beeinflussen.

Welty: Ich denke, Sie sind für jeden telefonisch erreichbar, oder, wenn man fragen will?

Hey: Ja, auf jeden Fall.

Welty: Hartz IV in der Praxis – dazu Christina Hey vom Arbeitskreis Soziale Brennpunkt in Marburg. Ich danke Ihnen fürs Gespräch!

Hey: Gerne!