Das KirchnerHAUS in Aschaffenburg

Tanz-Szenen aus Kirchners Skizzenbuch

"Tanzende Frauen" von Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938)
"Tanzende Frauen" von Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) © imago / United Archives WHA
Von Anke Petermann · 15.06.2018
In Aschaffenburg steht das Geburtshaus Ernst Ludwig Kirchners. Anlässlich des 80. Todestags des expressionistischen Malers plant man dort jetzt neben der biografischen Dauerausstellung auch eine Sonderausstellung zum Thema Tanz: mit zahlreichen Leihgaben renommierter Museen.
Brigitte Schad steigt die 160 Jahre alte Holztreppe hoch, schließt im ersten Stock das frühere Kinderzimmer im KirchnerHAUS auf, heute eine Präsenzbibliothek zum Schmökern und Forschen über den großen Expressionisten. Der kleine Ernst Ludwig verbrachte hier die ersten Jahre seines Lebens. Die ehrenamtliche Museumsleiterin öffnet das Fenster zur Ludwigstraße, vormals Große Bahnhofstraße.
Der Blick fällt auf den Aschaffenburger Hauptbahnhof, vormals Station der bayerischen Ludwigs-Bahn. So hieß die 1854 eröffnete königliche Staatsbahnstrecke über Würzburg nach Bamberg. Heute ist Aschaffenburg ein Stopp auf der Route vom Ruhrgebiet über Frankfurt am Main nach München und Wien.

Von der Beobachtung der Bewegung

Im Zweiten Weltkrieg wurde das alte Empfangsgebäude zerstört. Mit dem Abriss des 50er-Jahre-Bahnhofs auf historischem Umriss, dem opulenten Neubau in Glas samt großem Busbahnhof ging Kirchners Ausblick aus dem Kinderzimmer weitgehend verloren. Kaum möglich, von hier noch einen Blick auf Gleise und Züge zu erhaschen. Busse und Autos übertönen die Waggons.
"Ich bin am Bahnhof geboren. Das erste, was ich im Leben sah, waren die fahrenden Lokomotiven und Züge. Sie zeichnete ich, als ich drei Jahre alt war", hielt Ernst Ludwig Kirchner in seinen "Bemerkungen über Leben und Arbeit" für die Zeitschrift "Das Werk" fest. 1930 war das, acht Jahre vor dem Suizid. Das Aschaffenburger Kindheitserlebnis hat ihn als Künstler wohl dauerhaft geprägt, überlegte der 50-Jährige weiter. "Vielleicht kommt es daher, dass mich besonders die Beobachtung der Bewegung zum Schaffen anregt. Aus ihr kommt mir das gesteigerte Lebensgefühl, das der Ursprung des künstlerischen Werkes ist."

Besucher des KirchnerHAUSES können diese und andere Zitate an einer der Audiostationen in der biografischen Dauerausstellung ein Stockwerk tiefer nachhören. Soeben nimmt Gerhild Rachor-Hoßner den Kopfhörer. Die Besucherin kommt regelmäßig her. Sie ist eines von 260 Mitgliedern im KirchnerHAUS-Verein. Der betreibt das Museum und unterstützt es finanziell, gesponsert durch die Bayerische Sparkassen-Stiftung, den Bezirk Unterfranken, die Landesstelle der nicht-staatlichen Museen und private Gönner.
Blick aus einem Fenster im Geburtshaus von Ernst Ludwig Kirchner - auf den Busbahnhof in Aschaffenburg
Blick aus einem Fenster im Geburtshaus von Ernst Ludwig Kirchner - auf den Busbahnhof in Aschaffenburg© David Ebener / dpa / lby

Detailgetreue Zeichnungen von einem Dreijährigen

In der Dauerausstellung berührt Rachor-Hoßner einen Bildschirm, versetzt damit Lok und Waggons in Bewegung. Multimedia-Studierende der Hochschule Aschaffenburg haben die Kinderzeichnung Ernst Ludwig Kirchners animiert. Ein Dreijähriger, der eine Eisenbahn mit schwarzem Stift detailgetreu zeichnet – kaum zu glauben. Hätte nicht der stolze Vater, Ingenieur in einer Aschaffenburger Papierfabrik, diesen ersten frühen Beleg für das künstlerische Talent seines ältesten Sohnes datiert. "Die hat der Vater beschriftet 'Ernst allein gezeichnet, 21. Januar 1884', und am 6. Mai ist der Kleine vier Jahre alt geworden. Also, er war dreidreiviertel."
Als der Holzboden des Kinderzimmers im ersten Stock abgeschliffen wurde, erzählt Museumsleiterin Brigitte Schad, fand sich in den Dielen ein Bleistift mit runder Graphitmine. Ein Vereinsvorstand schickte ihn der Firma Faber-Castell zur Begutachtung. Diese datierte das handgefertigte Traditionserzeugnis auf das Ende des 19. Jahrhunderts.
Das mutmaßlich erste Zeicheninstrument des Wunderkindes liegt heute am Fundort in einer Vitrine. Und Kirchners Kinderzeichnungen lebten in seinem späteren Werk wieder auf. Gar nicht so verwunderlich für den Mitgründer der Dresdner Künstler-Vereinigung "Die Brücke". "Er hat als erwachsener Künstler von diesen Kinderzeichnungen Holzschnitte gemacht, die auch diese kindliche Anmutung noch haben. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass die Expressionisten überhaupt die Kinderzeichnung sehr hoch geschätzt haben."

Das Geburtshaus blieb lange unbeachtet

Das Geburtshaus des international bekannten und geschätzten Malers blieb in Aschaffenburg lange unbeachtet, erinnert sich Besucherin Gerhild Rachor-Hoßner. "Ich kannte es so als normales Haus in dieser Häuserzeile, das so vor sich hingegammelt hat. Ich finde es sehr gut, dass das daraus entstanden ist. Ich finde es schon eine gute Idee." Die gar nicht so leicht umzusetzen war. Denn die Stadt Aschaffenburg wollte das gammelnde klassizistische Gebäude mit einer Spielhalle darin weder kaufen noch als Museum betreiben.
Kritiker finden, sie habe damit eine Chance vertan, ihrer Verantwortung als Geburtsort eines großen Künstlers gerecht zu werden. Thomas Richter dagegen wirbt um Verständnis für die Nöte der 70.000-Einwohner-Stadt mit einem vielfältigen und kostenträchtigen kulturellen Erbe. Mit Blick auf das KirchnerHAUS fügt Direktor der Städtischen Museen an: "Es wäre dann das neunte gewesen. Und für die Größe der Stadt wäre das ein Knackpunkt gewesen. Da kann man die Politikerin und Politiker schon auch verstehen, die mit den Ressourcen umgehen müssen. Und wir haben natürlich in unserem Museumsentwicklungsplan auch noch etliche Baustellen. Von daher kann man die zögerliche Haltung verstehen."
2011 sprang der frisch gegründete KirchnerHAUS-Verein in die Bresche, mit der promovierten Kunsthistorikerin Brigitte Schad an der Spitze: pensionierte Museumsleiterin, Expressionismus- und Kirchner-Kennerin. Gemeinsam mit dem Vereinsvorstand akquirierte sie die Mittel, um das Haus klima- und versicherungstechnisch so weit zu bringen, dass renommierte Sammler ihm teure Originale für Wechselausstellungen anvertrauen. Seit drei Jahren darf sich das KirchnerHAUS Museum nennen und fährt Lob für qualitativ hochwertige Präsentationen ein.

Ausgezeichnet mit einem Denkmalpflegepreis

"Aber es ist schwierig", weiß Besucherin Gerhild Rachor-Hoßner, die den Verein mit ihrem Mitgliedsbeitrag unterstützt. Und die ehrenamtliche Museumschefin Brigitte Schad gibt zu: "Wir in der Gesamtheit des Vorstandes – wir mussten schon kämpfen, ja. Aber ich denke, es hat sich gelohnt, der Kampf. Es ist was entstanden. Wobei natürlich so große Dinge wie die Restaurierung dieses Gebäudes – das hat ja einen Denkmalpflegepreis bekommen – das wurde von den Hausbesitzern gemacht. Nachdem das Haus von Privat gekauft wurde, haben die sich sehr engagiert. Und auch da hat die Stadt mitgeholfen, dass dieses Haus so dasteht wirklich wie im Originalzustand, von der Fassade wie 1861."

Ausstellung zum Farbentanz und Bewegungen

Cremeweiß mit einem Mittel- und zwei Seitengiebeln im Dach. Unten mit Platz für die biografische Dauerschau. Die ist mit ihren großformatigen Reproduktionen auf lichtdurchflutetem Stoff schnell verstaut, wenn das Erdgeschoss für eine Wechsel-Ausstellung gebraucht wird. Im September wird das wieder so sein. Dann zeigt das KirchnerHAUS, wie Bewegung als Motiv auch das Spätwerk des Expressionisten prägte. Und zwar die menschliche, vor allem die grazile weibliche Bewegung.
Das renovierte Geburtshaus des Malers Ernst Ludwig Kirchner in Aschaffenburg.
Das renovierte Geburtshaus des Malers Ernst Ludwig Kirchner in Aschaffenburg.© David Ebener / dpa
Brigitte Schad will damit einen Bogen von Kirchners Anfängen Ende des 19. bis zu seinem späteren Schaffen Anfang des 20. Jahrhunderts schlagen. Das beidseitig gestaltete Aquarell "Tänzerinnen" von 1927 stellt den vorhandenen Grundstock dar. Ein Kleinformat, das ein Gönner dem KirchnerHAUS vor fünf Jahren schenkte.
Weitere Tanz-Szenen aus einem späten Skizzenbuch Kirchners sollen dazu kommen. "Für die Ausgestaltung des Festsaals des Folkwang-Museums in Essen hat er ein riesiges Gemälde zum Thema 'Farbentanz' geplant. Er hat es 'Farbentanz' genannt. Der Auftrag kam dann nicht zustande, obwohl er über fünf Jahre an diesem ganzen großen Plan gearbeitet hat. Aufgrund des Nationalsozialismus, das war dann schon 1933, wurde der sehr fortschrittliche Museumsdirektor abgesetzt und durch einen linientreuen Museumsdirektor ersetzt. Und damit war auch das Projekt gestorben."

Leihgaben von zahlreichen namenhaften Museen

Einer der Tiefschläge, die in den 30er-Jahren an dem psychisch und physisch labilen Maler zehrten. Das Aschaffenburger KirchnerHAUS erweist dem Farbentanz späte Referenz. "Wir werden vom Folkwang-Museum Essen in der Ausstellung im Herbst mehr als zehn Leihgaben bekommen zu diesem Thema der Ausgestaltung des Festsaals des Folkwang-Museums." Darüber hinaus Leihgaben, so Brigitte Schad: "Vom Kirchner-Museum Davos übers Städel in Frankfurt, Brücke-Museum Berlin, Landesmuseum Oldenburg. Und natürlich das Aschaffenburger Museum."
Insgesamt wird das kleine KirchnerHAUS 70 Originale aus dem Tanz-Kosmos des Expressionisten zeigen. Möglich wird das, weil Brigitte Schad als ehemalige Leiterin der Aschaffenburger Kunsthalle Jesuitenkirche von alten Kontakten zu renommierten Häusern und Sammlern in Deutschland und der Schweiz profitiert.

"Er hat gewusst, dass seine Werke zerstört werden"

"Rückzugsort Davos" heißt die letzte biografische Station im KirchnerHAUS, flankiert von einem reproduzierten Ausschnitt seines bunten Landschaftsgemäldes "Stafelalp im Nebel". Das Original hängt im Aschaffenburger Schlossmuseum.
So idyllisch Kirchners Umgebung seit 1917 in der Schweiz war – erholen von Depression und Krankheit konnte er sich dort nicht mehr. Der NS-Staat, so Thomas Richter, Direktor der Städtischen Museen Aschaffenburg, zählte den Expressionisten zu den "entarteten" Künstlern. "Er hat natürlich gewusst, dass in Deutschland seine Gemälde und seine Werke aus den Museen abgehängt werden, verschleudert, zerstört werden. Er wusste, dass die Bedrohung next door ist, über die Bergketten hinweg dieser Staat sich ja etablierte und ganz Europa bedrohte. Das hat auf ihn eingestürmt. Das ist an den Bildern ablesbar. Das ist auch an seinem Ende ablesbar."
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