"Das Inbild einer deutsch-französischen Möglichkeit"

Werner Spies im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 22.01.2013
Der Künstler Max Ernst war Deutscher und Franzose zugleich. "Genialität, die Stille, der Mangel an Ungeduld", das waren laut seinem langjährigen Freund und Kurator der Wiener Ausstellung, Werner Spies, die Markenzeichen des surrealistischen Malers und Bildhauers.
Matthias Hanselmann: Er war einer der ersten Dadaisten, gründete 1919 die Kölner Dada-Gruppe mit, er war Surrealist, Maler, Bildhauer, Erfinder von vielen Collagetechniken und mehr. Max Ernst, einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Und er war Deutscher und Franzose zugleich, erhielt 1958 die französische Staatsbürgerschaft, nachdem er fünf Jahre zuvor aus dem amerikanischen Exil nach Frankreich zurückgekehrt war. Bevor er vor den Nazis hatte fliehen können, war Max Ernst als verfeindeter Deutscher in Frankreich mehrfach inhaftiert. Seine Kunst wurde von den Nazis als entartet eingestuft. Vieles von dem, was er geschaffen hat, ist jetzt in einer großen Retrospektive zu sehen, in der Albertina in Wien. Kuratiert hat diese Ausstellung der wohl weltweit beste Kenner Max Ernsts und bis zu dessen Tod einer seiner engsten Freunde. Werner Spies, hochdekorierter Kunstexperte, Buchautor und langjähriger Kulturvermittler zwischen Deutschland und Frankreich. Mit ihm habe ich vor der Sendung gesprochen, und meine erste Frage: Sie haben Ihre Freundschaft zu Max Ernst einmal als die tiefste Begegnung Ihres Lebens bezeichnet. Was hat sie an ihm so fasziniert, was hat Ihre Freundschaft ausgemacht?

Werner Spies: Sicher die Poesie und dieser metaphysische Wunsch, über die Banalität der Realität hinauszuschauen. Die Realität, mit der wir täglich zu tun haben, sie zwar zu akzeptieren, aber doch das Gefühl dafür zu haben, dass es noch etwas anderes gibt, was dahinter steht. Das ist die Welt des Traums, der Imagination, auch des Aufruhrs. Max Ernst war ein aufrührerischer Mensch, der nicht nur mit Traumgespinsten sich umgab, sondern der konkret auf politische und soziale Erfahrungen und Ereignisse reagierte. Und das war in jeder Hinsicht beispielhaft für mich.

Hanselmann: Sie sind selbst 1960 nach Paris gezogen. Können Sie sich erinnern, wann diese tiefgehende Beziehung begann? Wann und wie haben Sie Max Ernst kennengelernt?

Spies: Im Grunde mit einer Verspätung, für die Daniel-Henry Kahnweiler, mein Mentor in Paris, der Entdecker des Kubismus, Picasso und so weiter, schuld war. Er wollte mich völlig auf Picasso und den Kubismus einschwören und sagte mir auch, ich warne dich vor dem Surrealismus und vor allem vor Max Ernst. Und als ich dann mal gebeten wurde von der Frankfurter, zum 75. Geburtstag von Max Ernst einen Aufsatz zu schreiben, begegnete ich Max Ernst, und ich muss sagen, das war das Unerwartetste, was ich je erleben konnte.

Die Genialität, die Stille, der Mangel an Ungeduld, die Zufriedenheit mit dem, was er machte, und die Ungeduld mit dem, was er erreicht hatte - auch die Freundschaften, die ich über ihn kennengelernt habe mit Beckett, mit Aragon, mit Tzara, mit Duchamp, das war alles wunderbar, das brachte mich in eine Welt, die damals in den 60er-Jahren gar nicht so sehr im Vordergrund stand. Der Surrealismus war damals eher, ich möchte nicht sagen, aus der Mode gekommen, aber er war ausgewandert mit dem Exil nach Amerika. Und Max Ernst hat ja in Amerika eine große Phase erlebt und hat dort neue Techniken erfunden, die zum Dripping führten. Und als er zurückkam, war er, wie auch die anderen, wie André Breton, doch irgendwie zunächst marginalisiert.

Hanselmann: Würden Sie sagen, diese amerikanische Phase war die wichtigste im künstlerischen Leben von Max Ernst? Man sagt ja über ihn, er war ein Rastloser, und das einzig Konstante in seinem Leben sei der Wechsel gewesen?

Spies: Wissen Sie, was ist das wichtigste Organ im Menschen? Wir können es auch nicht beantworten. Ich würde sagen, Max Ernst hat in seinem Leben viele Brüche gehabt. Die Dada-Zeit, die einzigartig war, die er aber auch nicht andauern ließ, weil er, wie er mir sagte, eine Revolution kann man nicht ausstellen. Das ist wie eine Granate, die zerplatzt und dann hat man nur noch die Splitter. Man kann die Explosion selbst nicht irgendwie verewigen. Man muss was Neues finden. Und das Neue war dann der Surrealismus, den er nach Frankreich brachte mit seiner Kenntnis der deutschen Romantik, der deutschen Literatur der Romantik auch, mit den Bildern der Romantik, die er in seinen fabelhaften Collagen umgesetzt hat. Und das war 1921 die große Erleuchtung in Paris für alle Schriftsteller: die Collagen, die Max Ernst nach Paris schickte in einem gewöhnlichen Postpaket. Aragon und Tristan Tzara erzählten mir, mit welcher Emotion sie das Paket öffneten, eine Ausstellung machten, und wie das die ganze Vorstellung von Bildnerei für sie verändert hat. Und Breton fügte auch hinzu: Ohne Max Ernst, ohne seine Ankunft in Paris, hätte es den Surrealismus überhaupt nicht gegeben.

Hanselmann: Es gibt ja noch eine wichtige Sache, die Sie beide verbindet, nämlich das lange, lange Leben in Frankreich. Was hat es Ihrer Meinung nach für Max Ernst bedeutet, in Frankreich zu leben? Warum hat er dort so viel Zeit verbracht?

Spies: Er hat in Frankreich eine Gesellschaft gefunden, in der er sich wohlfühlte, eine intellektuelle Gesellschaft, und Freundschaften, die einzigartig waren. Eluard, Breton und die Surrealisten. Und außerdem kam hinzu die französische Sprache, die er schätzte und auch die Ablehnung des Nationalen. Nach dem Ersten Weltkrieg, der Kampf gegen den Chauvinismus und Militarismus, der stand im Vordergrund. Und in Frankreich traf er überall auf Gleichgesinnte, und er fand in Frankreich wie zuvor nur noch Heinrich Heine im Grunde, die Möglichkeit, in der Spannung zwischen Deutschland und Frankreich zu leben. Er hat keineswegs Deutschland und die deutsche Sprache, die Poesie aufgegeben. Im Gegenteil: Es war irgendwie, ja, man könnte sagen, das Repoussoir für das, was ihn nun interessierte. Für die Mentalitätsgeschichte der zwei Länder ist es Kapital, dass es eine Figur wie Heinrich Heine oder Max Ernst gegeben hat, der ohne Chauvinismus sich auch mit einer anderen Kultur zu verbinden hoffte. Max Ernst war für mich das Inbild einer deutsch-französischen Möglichkeit.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton am 50. Jahrestag des Elysée-Vertrages zwischen Frankreich und Deutschland. Wir sprechen mit Werner Spies, seit 1960 in Paris wohnhaft. Herr Spies ist Kurator zahlreicher Ausstellungen, Publizist vieler Monografien zur Kunst des 20. Jahrhunderts und Experte für Leben und Werk von Max Ernst, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband. Herr Spies, in Ihrer Autobiografie mit dem Titel "Mein Glück" schreiben Sie unter anderem von den unzähligen Freundschaften und Bekanntschaften, die Sie mit den berühmtesten Künstlern der Welt hatten, von Pablo Picasso über Andy Warhol bis eben zu Max Ernst. Und dann ist Ihnen etwas gelungen, das kaum jemand für möglich gehalten hätte: Sie wurden 1997 Direktor des Centre Pompidou und waren damit verantwortlich für die Neugestaltung des Musée Nationale d'Art Moderne. Und ich glaube, man kann sagen, dass Sie nicht erst damit den kunstinteressierten Menschen in Frankreich regelrecht die Augen geöffnet haben. Schon zehn Jahre zuvor haben Sie die Ausstellung "Paris - Berlin" kuratiert. Welches neue, welches andere Deutschlandbild, glauben Sie, konnten Sie in Frankreich damit vermitteln?

Spies: Man kannte von Deutschland damals nix, was bildende Kunst angeht. Man kannte die deutsche Musik, die Philosophie, aber man kannte keinen Grosz, keinen Dix, keinen Beckmann. Man kannte nicht die Filme, man kannte nicht die Poesie. Und wir haben das in dieser großartigen und großräumigen Ausstellung "Paris - Berlin" alles zusammengebracht und den Franzosen gezeigt, dass es bis 1933 auch einen unerhörten intellektuellen Widerstand gegen den Nazismus, gegen den Faschismus gegeben hat. Und ich glaube, das hat sehr viel zur Annäherung und, ich möchte beinahe sagen, zur Aussöhnung zwischen den zwei Ländern beigetragen. Denn ich muss sagen, ich bin stolz, dass ich diese Ausstellung in Wien, an diesem Tag, am 22. Januar, 50-jährige Wiederkehr des Elysée-Vertrags, eröffnen kann mit Max Ernst, weil er wirklich das Bindeglied, das Symbol für eine deutsch-französische Freundschaft und, wie ich vorher sagte, Möglichkeit bedeutet.

Hanselmann: Das feiern wir heute, 1963 wurde am 22. Januar der Elysée-Vertrag unterzeichnet. Wie haben Sie das damals eigentlich erlebt? Sie wohnten ja als Deutscher schon in Paris.

Spies: Das war das Jahr, in dem ich meine französische Frau geheiratet habe. Und der Priester, der die Ehe schloss im Münster in Weingarten, bezog sich, als wir heirateten, eben auf die Freundschaft, die Dank des Besuchs von de Gaulle in Ludwigsburg nun vor aller Augen wieder möglich und sichtbar wurde. Also irgendwie kam uns dann diese Ehe, diese Freundschaft doch auch als Symbol dieser deutsch-französischen Möglichkeit vor.

Hanselmann: Vielleicht zum Schluss noch ein paar Worte zur Ausstellung, die heute eröffnet wird in Wien. Nach welchen Kriterien sind Sie vorgegangen, haben Sie diese Retrospektive zusammengestellt?

Spies: Ich habe versucht, mal wirklich wieder das Allerschönste und Beste zu kriegen, und ich glaube, wir können behaupten, es ist uns gelungen. Und ich glaube, diese Ausstellung, die Sie in Wien entdecken können, wird die Augen neu öffnen, und sie wird auch zeigen, dass Max Ernst immer aktuell bleibt. Jede Generation, ja jeder Jahrgang kann bei Max Ernst etwas anderes entdecken, und ich bin sehr gespannt auf die Reaktion der Menschen auf diese wirklich großartige Versammlung von Meisterwerken.

Hanselmann: Herr Spies, wir wünschen Ihnen ganz viel Erfolg mit dieser Retrospektive und danken ganz herzlich für das Gespräch!

Spies: Ich danke Ihnen und grüße Sie alle herzlich!

Hanselmann: Werner Spies, wie Max Ernst mit einem deutschen und einem französischen Herzen in der Brust und einer der besten Freunde des großen Malers und Bildhauers. Mehr zu der Max-Ernst-Ausstellung, die Spies zusammengestellt hat und die heute in Wien eröffnet wird, finden Sie unter www.albertina.at.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Werner Spies, deutscher Kunsthistoriker, Journalist, Kunstvermittler und Museumsdirektor
Werner Spies, deutscher Kunsthistoriker, Journalist, Kunstvermittler und Museumsdirektor© picture alliance / dpa / Erwin Elsner
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