Das Grauen lehren

Von Gottfried Stein · 09.12.2009
Argentinien war nach dem Zweiten Weltkrieg das wichtigste Zufluchtsland der Nationalsozialisten. Darunter waren Adolf Eichmann oder auch der KZ-Arzt Josef Mengele. Bis heute wehrt man sich hier gegen eine Aufarbeitung. Nun sollen Seminare den verantwortungsvollen Umgang mit diesem Thema nahebringen.
Ein Hörsaal in Bariloche. Rund 60 Lehrerinnen und Lehrer lauschen den Erklärungen der Referentin aus dem Holocaust-Museum in Washington. Wie kann man mit historischen Fotos und Filmen das Grauen der Judenvernichtung erklären? Noch dazu in einem Ferienort wie Bariloche, malerisch gelegen in den argentinischen Anden? Ricardo Niborski, Mitglied der jüdischen Gemeinde und Mitinitiator des Seminars:

"Bariloche ist ein Sonderfall, und das hat damit zu tun, dass die Stadt einige führende Köpfe der Nationalsozialisten und am Zweiten Weltkrieg Beteiligte beherbergt hat und auch Leute, die mit ihnen zusammengearbeitet haben, Kroaten, Franzosen, Belgier, Russen, Ukrainer. Es gab eine Gruppe von Deutschen, aber eine weit größere Gruppe anderer, die die kulturellen Ideen Deutschlands übernommen hatten, aber unter dem Vorzeichen des Nationalsozialismus, als hätten sie die gesamte deutsche Kultur aufgesogen."

Nach Kriegsende hatte Argentiniens Präsident General Peron einigen tausend Nazis Zuflucht gewährt - darunter gut 100 Kriegsverbrechern wie dem KZ-Arzt Josef Mengele, Adolf Eichmann oder dem SS-Hauptsturmführer Erich Priebke. Letzterer lebte bis Mitte der neunziger Jahre als angesehener Bürger und Vorstand der Deutschen Schule in Bariloche. Die Vergangenheit war nie Thema, erzählt der deutschstämmige Mitorganisator des Seminars, Hans Schulz:

"Das Motto war: Über diese Themen werden wir nicht sprechen, und alles was Holocaust, oder Kriegsverbrechen war, das wurde abgeschaltet. Ich wollte einen Satz des Leiters der Deutschen Schule erwähnen, von Dr. Schadt, der kein Nazi war, aber er war Leiter der Deutschen Schule, ´65 bis´72: ‚Zweiter Weltkrieg und was dort passiert ist, werden wir an der Schule nicht unterrichten.’ Warum? Weil es Konflikte mit den deutschen Familien mit sich bringt, die ihre Kinder an die Deutsche Schule schicken."

Einen ganzen Tag referierten Experten wie der argentinische Richter Daniel Rafecas oder Graciela Jinich, die Vorsitzende des Holocaust-Museums von Buenos Aires, über das in Argentinien immer noch nur zögerlich verarbeitete Thema:

"Das Thema der Nazis, die nach Argentinien kamen, ist ein Thema, das die Lehrer in gewissem Maße kennen, aber nicht alle wissen darüber Bescheid, was während des Zweiten Weltkrieges, was während des Holocaust geschah. Für viele liegt das in der Zeit weit zurück und scheint ihnen geografisch weit entfernt."

Vergangenheitsbewältigung ist ein heikles Thema in Argentinien. Die Verfolgung der eingeborenen Mapuche-Indianer und vor allem die Militärdiktatur von 1976 bis 83, mit rund 30.000 ermordeten, offiziell immer noch als Verschwunden geltenden Opfern sind offene Wunden. Eine Lehrerin der Don Bosco-Schule in Bariloche:

"Das ist keine Vermischung, die Militärdiktatur bedeutet auch Totalitarismus, daher ist es selbstverständlich, jegliche Form der Barbarei mit einer anderen Form der Barbarei in Verbindung zu bringen. Deshalb assoziieren wir ein Thema mit dem anderen. Für uns ist die Erinnerung noch frischer. Wir kommen nicht umhin, eines mit dem anderen in Verbindung zu bringen."
Die Initiatoren des Seminars sprechen von einem "Pakt des Schweigen", den es zu durchbrechen gelte. Anwesend waren auch Lehrerinnen der Deutschen Schule, die nicht nur im Falle Priebke lange Jahre zur Nazi-Geschichte geschwiegen hat. Die Österreicherin Gabriele Liesberger arbeitet seit zwei Jahren an der Schule:

"Es ist ganz schwer hineinzublicken, was in der Gesellschaft in Bariloche passiert. Mir selber fällt es schwer zu verstehen was passiert, weil es für mich als Österreicherin eigentlich normal ist, darüber zu sprechen, weil es in unserer Geschichte und im Schulunterricht integriert ist. Hier ist der Status, dass der Holocaust tatsächlich viel geleugnet wird, von vielen älteren Personen in Bariloche."