Das Fest der Sehnsucht

Michael von Brück im Gespräch mit André Hatting · 23.12.2011
Als Fest des Kindes erinnere Weihnachten den modernen Menschen an die Geborgenheit seiner Jugend, sagt der Religionswissenschaftler Michael von Brück. Angesichts der Komplexität moderner Gesellschaften werde die Sehnsucht danach immer stärker.
André Hatting: Gehen Sie zu Weihnachten zum Gottesdienst, auch wenn Sie das ganze Jahr über keinen Fuß in die Kirche gesetzt haben? Heiligabend und Christmesse, das gehört für viele einfach dazu und ist ein Beispiel für ein liebgewonnenes Ritual. Die Weihnachtszeit ist voll davon: Adventskalender basteln, gemeinsames Festessen, Bescherung mit Weihnachtsmann und so weiter und so fort.

Rituale sind aber viel mehr als nur Alltagsdekor. Über die Bedeutung dieser kleinen Gewohnheiten hat Michael von Brück geforscht, er ist Professor für Religionswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Guten Morgen, Herr von Brück!

Michael von Brück: Guten Morgen, Herr Hatting!

Hatting: Haben Sie schon heute ein Ritual hinter sich?

von Brück: Ja, ganz gewiss, zwei nämlich: Ich habe meinen Morgenkaffee getrunken und mich dann hingesetzt und meditiert.

Hatting: Welches ist für Sie das wichtigste Ritual im Alltag?

von Brück: Das ist das morgendliche Aufstehen und das Nicht-in-den-Tag-Hineinstolpern, sondern bewusst den Tag annehmen durch eine Meditation, durch Atmung, durch, ich möchte sagen, Konzentration.

Hatting: Sie sprechen Meditation an, für Sie persönlich ein ganz wichtiges Ritual. Würden Sie generell sagen, dass Rituale tatsächlich eher eine psychologische oder eine soziale Bedeutung haben?

von Brück: Beides. Rituale geben dem Individuum Stabilität und strukturieren den Alltag in Raum und Zeit, und sie geben Gemeinschaften einen Zusammenhalt, Gemeinschaften in der Familie, Gemeinschaften der Staaten, Gemeinschaften der Religionen, wie auch immer. Sie geben Identität.

Hatting: Gibt es auch die Möglichkeit, dass Rituale schädigen, dass sie zwanghaft werden?

von Brück: Ganz bestimmt. Wir haben so was sehr häufig in der Religionsgeschichte aber auch individualpsychologisch: Rituale werden dann zum Zwang, wenn der Betreffende die Vorläufigkeit oder auch das Spielerische des Rituals nicht mehr erkennt oder das, was wir in der Wissenschaft "die Inszenierung" nennen, sondern seine ganze Lebensbedeutung mit diesem Ritual verbindet und wie in einer Sucht ohne dieses Ritual nicht mehr kann.

Die Rituale selbst allerdings haben sehr häufig diesen, ja, möchte ich sagen, diesen Hinweis darauf, dass sie eigentlich auf etwas hinweisen und nicht die Sache selber sind, wir nennen das: Sie haben eine symbolische Funktion. Wenn Rituale dieses Symbolische nicht mehr ausdrücken können, wenn sie sich also nicht mehr selber transzendieren können, zeigen können, sie weisen auf etwas anderes hin, dann werden sie zum Zwang.

Hatting: Apropos Symbol: Es scheint so zu sein, dass Rituale in Krisenzeiten, also wenn es einer Gesellschaft oder auch einem Individuum besonders schlecht geht, dass dann die Rituale eine stärkere Bedeutung haben als sonst. Stimmt das?

von Brück: Ja, das kommt drauf an. Wir kennen so etwas, natürlich etwa aus Kriegssituationen oder auch aus individuellen Krisen. Dann nämlich, wenn der Mensch an seine Grenzen geführt wird, wenn er nicht mehr alles planen kann, wenn Unvorhergesehenes passiert, dann erinnern sich Menschen sehr häufig an größere Zusammenhänge, vor allem an Dinge aus der Kindheit - das hängt übrigens auch mit Weihnachten zusammen. Aber man muss grundsätzlich sagen: Rituale verwandeln sich natürlich, die ändern sich in den Gesellschaften, sie passen sich gesellschaftlichen Entwicklungen, ökonomischen, geistigen Entwicklungen an, und sie sind nichts Starres. Aber gleichzeitig sind sie auch nicht etwas, was man jeweils beliebig neu erfinden kann, denn dann würden sie diese Identität in der Gemeinschaft nicht mehr stiften.

Hatting: Herr von Brück, Sie haben gerade die Kindheit angesprochen und die Erinnerungen an die Kindheit. Jeder, der Kinder hat, oder vielleicht auch aus eigener Erfahrung, kennt die Bedeutung der Rituale, zum Beispiel des Einschlafrituals: Ohne Gute-Nacht-Geschichte geht bei uns zum Beispiel überhaupt nichts. Warum ist gerade für Kinder das Ritual besonders wichtig?

von Brück: Weil sie Geborgenheit suchen. Kinder leben noch nicht in selbstbestimmten Lebensverhältnissen, sie müssen und können auch noch nicht den Alltag und alles, was damit zusammenhängt, planen, sie sind abhängig. Und diese Abhängigkeit wird im Ritual einerseits dargestellt, andererseits kompensiert.

Hatting: Sie haben, Herr von Brück, ein Buch zum Thema geschrieben, "Leben in der Kraft der Rituale: Religion und Spiritualität in Indien" heißt es, erschienen ist es in diesem Jahr. Der Titel und der Untertitel, die suggerieren mir zwei Dinge. Erstens: Rituale geben Kraft, darüber haben wir schon gesprochen, und zweitens: Sie sind Verwandte der Religion, zumindest in Indien. Inwiefern?

von Brück: Ja, in allen Kulturen kennen wir Rituale, und ich glaube, dass es keine menschliche Kultur gibt, auch die gegenwärtige sogenannte säkulare Kultur nicht, die ohne Rituale auskäme. Indien ist nun ein sehr interessantes Beispiel, weil wir auf der einen Seite eine Gesellschaft haben, die, wie wir alle wissen, in die Moderne aufbricht und in vielen Aspekten genauso modern und ökonomisch, wissenschaftlich, technisch entwickelt ist wie unsere, gleichzeitig aber in einer ritualisierten Kultur lebt, die eben von den Religionen ganz und gar geprägt ist, die den Menschen und dieser nun außerordentlich spannungsgeladenen Gesellschaft auch Halt und Zusammenhalt gibt. Und das darzustellen, ist Inhalt dieses Buches.

Wir gehen sehr in Details, in die Alltagsrituale der einzelnen Menschen, aber auch gesellschaftliche Rituale, und es ist interessant, zu sehen, wie diese Rituale sich einerseits verändern, natürlich unter Bedingungen der Moderne, aber andererseits eben auch etwas bieten, was Stabilität über die Zeit hinweg bietet. Und davon sollten sich Menschen auch in unserer Gesellschaft anregen lassen.

Hatting: Unsere Gesellschaft ist ein gutes Stichwort: Ich habe ja am Anfang das Gottesdienstritual zur Weihnachtszeit erwähnt. Man könnte ja auch eigentlich sagen: Das ist nur eine gute Tradition. Wie unterscheiden Sie das Ritual von der Tradition?

von Brück: Rituale sind natürlich Traditionen, sie sind aber inszenierte Traditionen. Tradition kann ja auch etwas Langweiliges sein oder etwas, was einfach geglaubt wird als etwas Wichtiges, aber Rituale stellen das in den Mittelpunkt, sie stellen es vor allen Dingen in einen körperlichen Zusammenhang. Sehen Sie, Rituale sind nie etwas nur Gedachtes, sondern etwas Ausgeführtes, und das machen sie so wirkungsvoll, psychologisch aber eben auch sozial.

Hatting: Warum ist eigentlich in unserer säkularen Welt ausgerechnet das Weihnachtsfest so wichtig und warum gibt es ausgerechnet hier so wahnsinnig viele Rituale?

von Brück: Ich glaube, das hängt einerseits mit historischen Entwicklungen zusammen, die auch zufällig sind - das geht bis zurück ins Mittelalter und dann ganz besonders in die Romantik -, aber es hat auch noch einen tieferen Grund: Das Weihnachtsfest ist ja, wenn man so will, theologisch gesehen nicht das zentrale Fest des Christentums, sondern das ist Ostern, die Auferstehung, ohne die das ganze Christentum gar nicht wäre. Aber Weihnachten, was übrigens ja noch in vorchristliche Zeit zurückgeht, in der römischen Kultur, Weihnachten ist das Fest, wo vor allem das Kind eine Rolle spielt.

Das Kind, das Kindsein, die Unschuld, die Unbefangenheit des Kindes erinnert, wie mir scheint, gerade den modernen Menschen, der sich ja ständig neu entscheiden muss, der ständig unter Druck steht, ja, an Verhältnisse des Menschseins, an eine Geborgenheit, an eine Unbekümmertheit vielleicht, die er sich ersehnt. Weihnachten ist ganz wesentlich eine Sehnsuchtsangelegenheit, die nun im Ritual umgesetzt wird, und diese Sehnsucht wird eher stärker angesichts der Unübersichtlichkeit und Komplexität moderner Gesellschaften.

Hatting: Professor Michael von Brück, Religionswissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität München war das über die Macht von Ritualen. Danke für das Gespräch, Herr von Brück!

von Brück: Danke schön, Herr Hatting, schöne Weihnachten!

Hatting: Danke, ebenso!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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