Das Erhabene entdecken

14.08.2012
Der in der DDR aufgewachsene Dichter Durs Grünbein ist dafür bekannt, dass er mit seinen Gedichten ganze Welten erfassen kann. In seinem Band "Koloß im Nebel" beweist er erneut seine thematische Spannbreite.
Durs Grünbein gelingt in "Koloß im Nebel" etwas Erstaunliches: Er lädt zu einer die Grenzen überschreitenden Reise ein, wenn er Ozeane ergründet ("Studien in Aquamarin") und mit der gleichen Aufmerksamkeit eine Pfütze poetisch adelt, in der sich die vertraute Fassade eines Gründerzeithauses spiegelt ("Paroxysmen an der Abendkasse").

Rom taucht in diesem Gedicht als doppelte Metapher auf – als Stadt, zu der alle Wege führen und als Sehnsucht, die Rom allein nicht zu stillen vermag. Denn das Glück des Geborgenseins, von dem das lyrische Ich weiß, hat nicht nur in Rom, sondern auch im Friedrichshain, mitten in Berlin, Quartier genommen.

Rom jedoch bleibt ein Mysterium, ein magischer Ort. Von dem ist etwas zu begreifen, wenn man die Hand über eine der steinernen Säulen des Pantheons gleiten lässt und der Geschichte nachspürt, von der die Vertiefungen im Stein erzählen. Geschichte hängt einem an. Man nimmt sie wie Kletten mit, die an Kleidern kleben. In dem Gedicht "Kletten" wird das lyrische Ich an Orte erinnert, wo man die Welt vergaß. Solche versunken geglaubten Welten tauchen plötzlich wieder auf, als eine Klette im Hausflur entdeckt wird. Plinius erwähnt, dass der Artname "lappa" für Kletten aus dem Griechischen "labein" abgeleitet ist und so viel wie "ergreifen" bedeutet.

Im Ergreifen etwas zu begreifen und zugleich ergriffen zu werden, aus diesem metaphorischen Wechselspiel beziehen die Gedichte von Durs Grünbein ihre, die Sinne elektrisierende und betörende Welthaltigkeit. Sie vermessen mit wachem Blick den Makrokosmos und entdecken – das Erhabene reflektierend – immer wieder auch Allerkleinstes.

In sehr verschiedenen Variationen wird in dem neuen Gedichtband das Meer angerufen, bestaunt und erkundet. Ozeane laden dazu ein, ihnen verwegene Hoffnungen und bizarre Träume anzuvertrauen. Es sind oft die, die auf dem Land zu versanden drohen ("Zimmer mit Aussicht zum Meer"). Übers Meer geht eine Sehnsucht.

Mit Worten gleitet Durs Grünbein auf Weltmeeren und wenn er vom schwankenden auf eher festen Grund wechselt, bleibt er dennoch ein Amphibienmensch, der in Geschichtslandschaften eintaucht, um deren Geheimnisse zu enträtseln. Von seinen "Tauchgängen" bringt er formvollendete Versgebilde mit, wie etwa das Gedicht "Deine Ecke des Universums und meine", das von den Paradoxien des Seins handelt. Jeder hat im Universum seine Ecke gefunden und glaubt dennoch, im Zentrum zu stehen.

Als Sprachgeflüster dringen Grünbeins Gedichte ans Ohr. In ihnen klingt das Meeresrauschen mit, das zu hören ist, wenn man eine Muschel ans Ohr hält. In "Die Bars von Atlantis" (2009) hat er das "dichterische Bild" als ein "Emportauchen aus der Sprache" beschrieben. "Die Dichtung", so heißt es, "versetzt die Sprache in den Zustand des Emportauchens."

Wer in Durs Grünbeins neuen Gedichtband "Koloß im Nebel" eintaucht, wird nach dem Emportauchen aus diesem Verselogbuch das Gefühl nicht los, außergewöhnliche Entdeckungen gemacht zu haben.

Besprochen von Michael Opitz

Durs Grünbein: Koloß im Nebel
Gedichte, Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
226 Seiten, 22,95 Euro