Das Erbe der Natur

Genbanken für Nahrungsmittelpflanzen

Blick auf die Proben einer Gendatenbank für Pflanzen
Blick auf die Proben einer Gendatenbank für Pflanzen © picture alliance / dpa / Peter Förster
Von Thomas Kruchem · 24.06.2015
Im Nahrungsmittelanbau beschränkt sich die Menschheit auf eine immer kleinere Auswahl an hochgezüchteten neuen Sorten. Sie sind zwar ertragreicher als die alten, aber oft auch sehr empfindlich für Schädlinge und Klimänderungen. Genbanken sollen das genetische Erbe bewahren.
Los Baños, ein Städtchen 40 Kilometer südöstlich der philippinischen Hauptstadt Manila. Hier liegt auf einer Hochebene, umgeben von Vulkanen, das Internationale Reisforschungsinstitut IRRI. Dort werden kultivierte und wilde Sorten von Reis gesammelt. Das Institut beherbergt eine der sogenannten Genbanken, die das genetische Erbe von Nahrungsmittelpflanzen bewahren - von Kartoffeln, Gemüse oder Obstbäumen.
Ein weitläufig angelegtes Ensemble aus zweistöckigen Betongebäuden, umgeben von Reisfeldern. Genbanken seien der Schlüssel für die Ernährung künftiger Generationen, meint Sackville Hamilton. Der in feinkariertes Tuch gekleideter britischer Biologe leitet dort die Genbank: "In den 70er und 80er Jahren machten sich zahlreiche Wissenschaftler auf die Suche nach unbekannten Sorten verschiedener Nahrungsmittelpflanzen. Diese Forscher unternahmen Expeditionen in die entlegensten Regionen dieser Welt; oft waren sie tagelang zu Fuß oder in Booten unterwegs, manchmal hatten sie Hubschrauber. Nahezu alle traditionellen Reissorten in unserer Genbank stammen aus dieser Zeit."
In einer Halle des Reisforschungsinstituts in Los Baños sitzen Frauen in bunten T-Shirts an weißen Tischen. Schneller, als das Auge folgen kann, fahren sie mit Holzspateln über die Tische, schieben unter weißem Licht goldbraune Körnchen zu Haufen, leeren sie in braune Papiertüten: "Auf diesen Tischen trennen wir gute Saatkörner von schlechten – Saatgut von mehreren tausend Sorten Reis, die wir pro Jahr aussäen und ernten. Wir brauchen ständig neues Material – für den Bestand unserer Genbank, für Züchter und Bauern in aller Welt. Damit wir kein krankes oder unreifes Saatgut einlagern oder die falsche Sorte, müssen wir halt Korn für Korn sortieren. Nur so können wir sicher sein, in unserer Saatgutbank genetisch und gesundheitlich einwandfreies Material aufzubewahren."
Jeder zweite Mensch lebt zu 80 Prozent von Reis
Jeder zweite Mensch lebe zu 80 Prozent von Reis, sagt Genbank-Chef Sackville Hamilton. Das wasserbedürftige Getreide sei das wichtigste Nahrungsmittel der Menschheit. Ein Nahrungsmittel – beschworen seit Jahrtausenden in traditionellen Tänzen, wie dem der philippinischen Ifugago, deren an Berghängen gelegene, Jahrtausende alte Reisterrassen als achtes Weltwunder gelten.
Reis, angebaut vor allem in Süd- und Südostasien, im Tiefland ebenso wie auf kunstvoll angelegten Hochlandterrassen; Rohstoff auch für Wein, Öl und Kekse; für Schachteln, Körbe und Textilien: "Reis spielt eine zentrale Rolle im Leben asiatischer Menschen – als Nahrungsmittel und als Basis des kulturellen Lebens. Die meisten Asiaten essen drei-, vier- oder fünfmal täglich Reis. Ein Essen ohne Reis ist für sie keine Mahlzeit. Kurz, die Ernährung mit Reis ist derart tief verwurzelt in 10.000 Jahren asiatischer Kultur, dass sie in starkem Maße das Selbstverständnis der Menschen prägt – was wir aus dem Westen uns kaum vorstellen können."
4.500 Kilometer entfernt vom philippinischen Tropen-Städtchen Los Baños liegt, nahe der südindischen Metropole Hyderabad, das Internationale Forschungsinstitut für Nahrungspflanzen der halbtrockenen Tropen. Es verfügt über 1.400 Hektar wissenschaftlich genutzter Anbaufläche, die Frauen in bunten Saris frei von Unkraut halten.
Das Institut kümmert sich um die Pflanzen, die vor allem in halbtrockenen Regionen Afrikas und Indiens gedeihen – bei 350 bis 700 Millimetern Regen im Jahr: um die Getreide Sorghum und Hirse, um Hülsenfrüchte wie Kicher- und Straucherbsen sowie Erdnüsse. All diese Pflanzen brauchen relativ wenig Wasser und Dünger, sagt Murli Sharma – ein rundlich und stets fröhlich wirkender Biologe, der seit 40 Jahren dort arbeitet: "Viele Inder decken ihren Proteinbedarf aus Hülsenfrüchten. Sie sind Vegetarier – aus persönlichen, religiösen oder, ganz einfach, wirtschaftlichen Gründen: Fleisch ist teuer, zu teuer für viele Menschen hier. Für sie sind Kicher- und Straucherbsen wichtige Grundnahrungsmittel und die Basis ihrer Proteinversorgung."
Die Getreide Sorghum und Perlhirse enthalten weit mehr Eisen und Zink als Weizen oder Mais; die wie Finger einer Hand aussehende Fingerhirse enthält dreimal so viel Kalzium wie Milch. – Ein großer Fan der Erdnuss ist Sharmas Kollege Hari Upadhyaya; er leitet die Saatgutbank des Forschungsinstituts: "Die Erdnuss ist eine sehr wichtige Frucht. Sie besteht zu 48 Prozent aus hochwertigem Öl und zu 25 Prozent aus Proteinen. Die Erdnuss oder Diese Hülsenfrucht enthält Eisen, Zink und viele weitere Spurenelemente. Sie zählt zu unseren wichtigsten Quellen für Speiseöl; wir essen sie; die Abfälle nutzen wir als proteinreiches Tierfutter. Eine wunderbare Frucht." Erdnüsse, Erbsen, Bohnen, Sorghum und Hirse; Reis, Weizen, Mais und Kartoffeln; Gemüse und Obst - Grundnahrungsmittel, die die Menschheit braucht.
Viele rote Markierungen - viele Krisenregionen
Weil die Menschheit immer stärker wächst, werden immer mehr Nahrungsmittel gebraucht. Auch deshalb haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Landwirte weltweit auf immer weniger Sorten konzentriert, die hohe Erträge bringen. Der fatale Nebeneffekt dieser Konzentration: Viele wohlschmeckende, nährstoffreiche und anpassungsfähige Sorten von Nahrungsmittelpflanzen sind mit der Entwicklung ertragreicher und lagerfähiger Sorten inzwischen verschwunden.
In Indien gerate die Abfolge von Monsun- und Trockenzeiten, auf der die Landwirtschaft aufbaut, zusehends aus den Fugen, sagt in Hyderabad Kesava Rao. Der schmächtige Klimaexperte blickt, über dicke Brillengläser hinweg, auf eine Indienkarte – voll rot markierter Krisenregionen. Niederschlag, der früher über Monate verteilt fiel, falle heute als Starkregen von bis zu 200 Millimetern pro Tag, sagt er. Lange Phasen extremer Hitze und Dürre plagten die Bauern ebenso wie Kälteeinbrüche zur Unzeit: "Im Oktober, wenn bei uns die Straucherbsen blühen, sinken neuerdings die Temperaturen auf zehn bis 15 Grad. Hinzu kommt Nebel – mit der Folge, dass auf unseren Versuchsfeldern und den Feldern lokaler Bauern 25 bis 30 Prozent der Blüten abfallen."
Den noch verbliebenen Hülsenfrüchten mache immer häufiger der Starkregen den Garaus; er lasse die Felder oft tagelang unter Wasser stehen, berichtet Raos junge Kollegin Mamta Sharma: "Die Konsequenz ist eine Pilzerkrankung, die wir Trockenwurzelfäule nennen. Eine früher seltene Erkrankung, die seit zehn Jahren jedoch immer häufiger vorkommt. Sogar Kichererbsensorten, die bislang resistent waren, werden inzwischen befallen. Und auch unsere Straucherbsen leiden – infolge des unregelmäßigen Regenfalls – unter einer früher fast unbekannten Pilzerkrankung: unter der Phytophthora-Braunfäule."
Hinzu kommen gefräßige Insekten, gegen die Pestizide oft nicht mehr helfen. Eine in Indien wie weltweit zusehends dramatische Situation, angesichts derer, sagt Sharma, nur eins helfe: neue Sorten an Nahrungsmittelpflanzen, die mit den Herausforderungen des Klimawandels fertig werden. Um solche Sorten züchten zu können jedoch, brauchen Landwirte und Forscher eine breite genetische Basis. Sie brauchen eine breite Vielfalt bereits existierender Sorten.
Vorbei an den jungen Frauen, die mit sicherem Blick und rasendem Tempo Korn für Korn sortieren, führt Ruaraidh Sackville Hamilton den Besucher in sein Reich – die Genbank des Reisinstituts IRRI auf den Philippinen.
Hier lagert Saatgut von über 120.000 Sorten Reis, unter ihnen tausende Wildsorten. Durstiger Tiefland-Reis und anspruchsloser Hochland-Reis; schwarzer, gelber, roter, grüner Reis unterschiedlichster Form und Halmlänge. Fotos der unterschiedlichen Sorten schmücken das ganze Institut.
Es geht durch Stahltüren, hinter denen mehrere Räume liegen: In einer Kammer wird Reis in braunen Papiersäckchen getrocknet – zwei Monate lang bei 15 Grad Celsius. Dann liegt der Feuchtigkeitsgehalt bei nur noch fünf bis sechs Prozent; das Saatgut kann gelagert und gekühlt werden, ohne Kälteschäden zu erleiden.
Der größere Teil des Materials, das so genannte Arbeitsmaterial, wird bei plus vier Grad gelagert – in penibel beschrifteten Dosen, aufgereiht in speziellen Rollregalen. So aufbewahrt sind die Saatkörner 40 Jahre lang haltbar: "Unsere Genbank ähnelt einer Bibliothek mit beweglichen Regalen. In diesem Raum, zum Beispiel, haben wir Platz für 150.000 Sorten – in natürlich begrenzten Mengen. Von dieser Sorte etwa haben wir gerade noch 300 Gramm. 20 Päckchen zu je 10 Gramm können wir noch an Interessenten weitergeben, bevor wir neues Saatgut dieser Sorte produzieren müssen."
10.000 Saatgutsorten pro Jahr vervielfältigt
Die 20 Päckchen können schnell weg sein – worüber der Genbank-Chef höchst erfreut wäre. Sein Ziel ist es, möglichst viele Interessenten – Bauern, Züchter, Wissenschaftler – mit unterschiedlichem Saatgut zu versorgen. Denn so werden die betreffenden Sorten auch genutzt – der sicherste Weg, ihr Verschwinden zu verhindern.
Alle Proben werden kostenlos weggegeben. Beide Institute stellen Interessenten darüber hinaus ihr gesamtes Wissen zur Verfügung: in Datenbanken im Internet; in Kursen für Forscher und Praktiker aus aller Welt.
Als er die Stahltür zur nächsten Kammer öffnet, wirft Sackville Hamilton einen prüfenden Blick auf den Monitor an der Tür: minus 21 Grad bei 30 Prozent Luftfeuchte. In dieser Kälte, die der Besucher gerade zwei Minuten aushält, ruht Saatgut für künftige Generationen: rund 100 Jahre lang – solange der Strom nicht ausfällt: "Wir haben für unser Institut eine Notstromversorgung und speziell für unsere Kühlräume zusätzliche Generatoren. Außerdem sind die Räume erdbeben-, taifun- und überflutungssicher; sicher eigentlich gegen jede Naturbedrohung – abgesehen vielleicht von dem drei Kilometer entfernten Vulkan dort drüben. Der ist zurzeit inaktiv. Sollte er jedoch mal ausbrechen, können auch wir nichts machen."
Damit eine Genbank und vor allem ihre Arbeitsbestände funktionsfähig bleiben, muss sie regelmäßig große Mengen Saatgut vervielfältigen. Das funktioniert im Reisinstitut auf den Philippinen ganz ähnlich wie im Institut für Nahrungspflanzen der halbtrockenen Tropen IRCISAT. Die Kriterien für die Vervielfältigung erklärt Hari Upadhyaya, Herr über 123.000 Sorten von Sorghum, Hirse, Erdnüssen, Strauch- und Kichererbsen: "Wir vervielfältigen etwa 10.000 Saatgutsorten pro Jahr, das heißt jede Sorte aus unserem bei vier Grad gelagerten Arbeitsbestand alle zehn bis 15 Jahre. Zeit für eine Neuaussaat ist es immer dann, wenn nur noch 25 Prozent der ursprünglich eingelagerten Menge übrig sind oder wenn bei Keimversuchen weniger als 85 Prozent des Saatguts aufgehen. Diese strengen Kriterien halten wir ein, weil wir unbedingt Saatgut höchster Qualität nach internationalen Standards bewahren wollen."
Upadhyaya führt den Besucher auf ein Feld, wo unter einem engmaschigen Netz in Reih und Glied gepflanzte Büsche rote und weiße Blüten hervortreiben: "Auf diesem Feld vervielfältigen wir gerade 1.500 Sorten von Kichererbsen. Diese werden in freier Natur normalerweise von Insekten befruchtet. Um das zu verhindern und damit die Vermischung unserer Sorten, haben wir das Feld mit einem insektensicheren Netz abgedeckt. An jeder Pflanze hängt übrigens ein Zettel. Dies zum Beispiel ist die Sorte ICP 10856, gepflanzt im Juni oder Juli 2014."
Nahrungsmittelpflanzen für künftige Generationen sichern
Wie aufwändig es ist, weltweit Millionen Sorten an Nahrungsmittelpflanzen für künftige Generationen zu sichern, weiß die im deutschen Bonn arbeitende US-Biologin Paula Bramel. Die Energieversorgung muss gesichert sein; alles Material, das verschickt wird, muss penibel auf Krankheiten, Viren und Pilze, untersucht werden. Und beileibe nicht alle Pflanzen können als Saatgut eingelagert werden: "Pflanzen, die wir nicht als Saatgut aufbewahren können, müssen wir auf dem Feld oder in Glasröhrchen aufbewahren. Pflanzen wie Kartoffeln, Süßkartoffeln, Bananen oder Yamswurzeln zum Beispiel. In den Röhrchen sehen Sie dann sehr kleine Pflanzen auf einem Nährmedium. In der Genbank für Bananen in Belgien etwa wachsen zahlreiche kleine Bananenpflanzen in solchen Röhrchen."
Bramel ist Direktorin des Global Crop Diversity Trust mit Sitz in Bonn. Eine internationale Organisation, gegründet 2004, mit dem Ziel, die Arbeit der internationalen Genbanken auf eine solide finanzielle Basis zu stellen. Der Trust soll in den nächsten Jahren ein Kapital von 500 Millionen Dollar ansammeln und dann aus den Zinsen den Routinebetrieb der Genbanken finanzieren. Sackville Hamilton aus den Philippinen hat gleichwohl noch viele andere Herausforderungen zu bewältigen: "Wir müssen die Eigentumsrechte der Bauern an ihren traditionellen Sorten und ihrem traditionellen Wissen respektieren. Wer darf mit wessen Genehmigung traditionell lebende Volksgruppen zu Ihrem Wissen über Kulturpflanzen befragen? Handelt es sich da um Wissensdiebstahl? Handle ich fair, wenn ich mit Pflanzensorten und Pflanzenwissen solcher Volksgruppen Gewinne erzielen? – Da wird derzeit international diskutiert, ob es vielleicht falsch ist, solches Wissen zu erheben. Tun wir es aber nicht, riskieren wir, dass Pflanzensorten und das dazugehörige Wissen für immer verloren gehen."
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