CDU-Politiker Norbert Röttgen

Deutschland, die Europäer und Trump

Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, aufgenommen am 09.09.2014 im Bundestag in Berlin.
Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages © dpa / picture alliance / Bernd von Jutrczenka
Norbert Röttgen im Gespräch mit Marcus Pindur · 16.06.2018
Im Verhältnis zwischen den USA und Europa ist die Vertrauensbasis gestört, seit Donald Trump ins Weiße Haus einzog. Wie es nun weitergehen soll, fragen wir den CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen.
Deutschlandfunk Kultur: Seit siebzig Jahren sind Europa und die USA eng verbündet. Seit 1949 gibt es die Nato, das wichtigste Instrument der Sicherheit für die westliche Welt. Die enge Kooperation hat nie Konflikte unter Freunden ausgeschlossen – vom Erdgas-Röhrenkonflikt 1980/82 bis zum Irak-Krieg 2003 lagen Europäer und Amerikaner durchaus auch mal über Kreuz.
Doch jetzt sind wir nach Ansicht vieler außenpolitischer Experten an einer Wasserscheide angelangt. Zum ersten Mal lehnt ein amerikanischer Präsident die weltweiten Bündnissysteme der USA ab. Er brüskiert die engsten Partner auf dem G7-Gipfel. Er kündigt Handels-, Rüstungskontroll- und Klimaabkommen. Während Trump über Putin kein schlechtes Wort verliert, wird einer der engsten Verbündeten, der kanadische Ministerpräsident Trudeau, gemaßregelt und beleidigt.
Welche Herausforderungen stellt das an die Europäer und an Deutschland? Wir sprechen in unserer Sendung Tacheles darüber mit Norbert Röttgen, Mitglied des Deutschen Bundestages, CDU, und Vorsitzendem des Auswärtigen Ausschusses. – Guten Tag, Herr Röttgen.
Norbert Röttgen: Guten Tag, Herr Pindur.
Deutschlandfunk Kultur: Wie war Ihre erste Reaktion, als Sie hörten, dass Donald Trump das Gipfelergebnis, das Gipfel-Kommuniqué praktisch in der Luft zerreißt?
Norbert Röttgen: Ich habe mir gedacht: Was für ein kindisches Verhalten! Er teilt aus ohne Ende gegen alle. Und dann erlaubt sich der kanadische Premierminister die Position seines Landes in der Handelsfrage auszudrücken, die ja davon geprägt ist, dass einseitige, wie alle finden, auch rechtswidrige Zölle auch gegenüber Kanada auferlegt sollen durch die USA. Und dann kündigt er auf per Tweet aus dem Flugzeug, dem er gerade zuvor zugestimmt hat, der Donald Trump. Das ist ein wirklich kindisches Verhalten.
Deutschlandfunk Kultur: Das kindische Verhalten hat aber auch Folgen. Sowohl der französische Präsident Macron als auch die britische Premierministerin May und natürlich der kanadische Premier Trudeau haben schärfere Töne angeschlagen gegenüber Donald Trump. – Ist das ein Hinweis darauf, dass dieser Gipfel tatsächlich die Wasserscheide war im Verhältnis zu den USA?
Norbert Röttgen: Nein, das glaube ich persönlich nicht. Die große Frage ist aber natürlich: Wie gehen wir mit dem Phänomen Trump um? Da muss man erst mal klären, wie verstehen wir das Phänomen. Mein Verständnis dieses Phänomens ist, dass es die Ersetzung von Politik durch die Person, durch die Persönlichkeit ist.
In gewisser Weise könnte man sagen, es gibt gar keine Politik mehr, keinen roten Faden, keine Strategie, keine Konzeption, kein politisches Wissen usw., sondern es gibt nur noch die Person – die Geschichte der Person, die vielleicht ein Rachebedürfnis hat, das Geltungsbedürfnis der Person. Daraus leitet sich alles ab. Das ist mein Interpretationsansatz.
Wenn man den zugrunde legt, dann wird das auch verständlich. Er ist beleidigt, wenn er kritisiert wird. Also kündigt er das. Dann trifft er sich mit dem nordkoreanischen Diktator Kim, wirklich einer der üblen Diktatoren. Und dort hat Trump das Bedürfnis, dass er einen großen Deal verkünden kann. Und darum ist er nachgiebig. Er hofiert diesen Diktator. Und dann stört auf einmal der jahrzehntelange südkoreanische Alliierte, eben Südkorea. Und die Manöver, die seit Jahrzehnten gemacht werden, werden auf einmal als teure Kriegsspiele, die provokativ sind, sozusagen rückwirkend desavouiert. – Das lässt sich nicht mehr rational erklären, sondern das lässt sich nur aus diesem speziellen Charakter erklären.
Das ist einerseits sehr weitgehend, aber andererseits, Sie hatten nach der Wasserscheide im transatlantischen Verhältnis gefragt, ist es dann eben auch individuell. Es ist nicht systemisch, nicht amerikanisch, sondern Trump.
Deutschlandfunk Kultur: Die Sache ist aber die, dass die Person Trump offensichtlich Instinkten folgt, die politisch wirksam sind und auf die sich viele Leute einlassen wollen, nämlich den Rückzug der USA aus den globalen Affären. Das Gefühl, übervorteilt zu werden vom Rest der Welt und besonders von den eigenen Verbündeten, das ist ja eine Stimmung, die da ist und auf die Trump zurückgreifen konnte in seinem Wahlkampf.
Norbert Röttgen: Das stimmt. Insofern muss man das auch hinzufügen: Die Ursachen, die Verfassung der amerikanischen Gesellschaft, die Spaltungen in der amerikanischen Gesellschaft, auch das vielleicht schon dysfunktionale politische System, jedenfalls das nicht mehr wirklich gute Funktionieren, die dominante Rolle des Geldes im amerikanischen politischen System, das sind alles Ursachen, die zur Wahl von Trump unter anderem geführt haben. Und diese Ursachen werden auch bleiben, wenn Trump schon nicht mehr im Amt ist. Also, das gibt es.
Es gibt diese Ursachen, die Populismus entstehen lassen, die den Rückzug entstehen lassen. Ja. Aber, was ich eben mit dem individuellen Phänomen meinte: Ich habe mit einer ganzen Reihe, seit der Wahl von Trump zum Präsidenten, von Unterstützern gesprochen, etwa im Senat, Senatoren, die ihn politisch unterstützen. Aber ich habe noch keinen, auch Unterstützer von Trump gesprochen, der seinen Stil teilt, der etwa sagen würde, ich unterscheide nicht mehr zwischen Gegnern und Alliierten. Das ist ja das Verhalten von Trump. Das ist ihm alles gleich.
Die, die dort in Verantwortung sind, die sagen: Für die USA gibt es keine besseren Verbündeten als die Europäer. Und natürlich bleiben wir international. Und natürlich haben wir eine Verantwortung. Und natürlich stehen wir für Freiheit und unsere westlichen Werte ein. – Also, insofern repräsentiert Trump nicht die USA, das politische System und die politisch Verantwortlichen in den anderen Bereichen, vor allen Dingen im Parlament.
Deutschlandfunk Kultur: Nun ist aber der Westen insgesamt als Wertekonzept ja nicht nur in den USA unter Druck. Die Briten versuchen einen Sonderweg jetzt zu führen. Putin setzt Europa und die Nato mit militärischen Provokationen unter Druck. Auch Regierungen innerhalb der Europäischen Union, um nur eine, Ungarn, zu nennen, stellen das Konzept der Einheit von Demokratie, Rechtsstaat und sozialer Marktwirtschaft infrage.
Hat der Westen Ihrer Ansicht nach als Wertegemeinschaft, als die er sich ja mal verstanden hat, denn noch eine Zukunft?
Norbert Röttgen: Davon bin ich überzeugt, weil es ja um unsere Zukunft geht. Aber was man sicher sagen muss, ist, dass die Zeit der Selbstverständlichkeiten vorbei ist, geschweige denn die Zeit, als man glaubte nach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhanges, dass sogar das Ende der Geschichte da sei, weil der Westen seine Werte, seine Lebensform nun universell seien, keine Herausforderung, geschweige denn Gegnerschaft mehr haben.
Nein, wir sind unter Druck von außen und von innen. Sie haben auch die Quellen von Druck und Herausforderungen benannt, auch Gegnerschaft, Gegenmodelle, die es gibt. Sie haben Russland richtigerweise benannt. Man könnte die Türkei und den Richtungswechsel in der Türkei noch hinzufügen. USA, haben wir eben drüber gesprochen. Und es gibt es genauso auch in der Europäischen Union, an der nicht nur der Ruf nagt, sondern auch die Politik der illiberalen Demokratie.
Ich ziehe daraus den Schluss, dass wir wieder darum kämpfen müssen, dass es das normative Konzept des Westens weiterhin gibt und dass es wieder stärker politische Realität wird. Denn dieses normative Konzept ist unsere Lebensform.
Deutschlandfunk Kultur: Wird Deutschland insgesamt seiner Verantwortung in Europa gerecht? Oder müssen wir uns darauf einrichten, vielleicht auch einen höheren Preis für europäischen Zusammenhalt zum Beispiel oder auch für die europäische Verteidigung zu leisten?
Norbert Röttgen: Wir müssen mehr tun. Wir sind zwar in einer schnellen Lernphase. Das muss man fairerweise auch mal sagen. Ich glaube, dass Deutschland erst seit rund vier Jahren, nämlich seit dem Kurswechsel der russischen Politik, in diese Herausforderung gekommen ist, viel mehr außenpolitische Verantwortung innerhalb Europas vor allen Dingen zu übernehmen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war Deutschland nicht gefragt, auch während der ganzen Zeit des Kalten Krieges, eine führende Rolle zu übernehmen. Und dann dachte man 1990, man braucht das sowieso alles gar nicht mehr, weil wir ja von Freunden umzingelt sind. Das heißt, es ist eine kurze Lernphase.
Aber wir sind noch deutlich hinter dem, was die Erwartungen von außen an uns sind und was auch unsere Interessen gebieten. Darum müssen wir, ich möchte es vielleicht absichtlich mal so benennen, einen höheren Preis für unser ureigenes Interesse bezahlen, dass Europa funktioniert. Das ist unser ureigenes, größtes, überragendes deutsches Interesse, dass Europa wieder funktioniert.
Was wir lernen müssen, ist, dass wir dafür mehr ausgeben müssen, mehr investieren müssen, und zwar sowohl Finanzkapital wie politisches Kapital. Das beinhaltet dann auch Verteidigungsfähigkeit genauso wie die Bereitschaft zu Kompromissen. Wir sind zu oft in den europäischen Streitfragen Partei. Wir müssen stärker als Deutsche und deutsche Politik ein Kompromissbauer, ein Brückenbauer sein, der auch zurücksteht, weil der Kompromiss Ergebnis bedeutet. Und wir dürfen nicht nur immer Partei sein. Wir müssen also Ergebnisse ermöglichen. Das muss der Kern und das Leitmotiv unserer Politik sein. Da müssen wir noch viel mehr tun.
Deutschlandfunk Kultur: Was Sie da gerade beschreiben, das wäre ja die Rolle in Europa, so wie bislang immer die Rolle der USA global gewesen ist, also dafür zu sorgen, dass Strukturen erhalten bleiben, dass Kooperation möglich ist zumindest und dass dafür eben auch ein Preis zu entrichten ist.
Jetzt gibt’s da mehrere Gebiete, auf denen wir uns gerade vielleicht einbringen könnten. Ich fange mal mit dem Euro zum Beispiel an. – Müssen wir uns, auch wenn das vielen von uns schwer fällt, vielleicht darauf einrichten, eben doch mehr an Solidarität mit Ländern zu leisten, die sich vielleicht nicht so verantwortungsvoll verhalten wie wir das gerne haben würden?
Norbert Röttgen: Ich glaube, dass Solidarität das entscheidende Stichwort ist. Ohne Solidarität und die Bereitschaft dazu wird die Europäische Union nicht bestehen. Und es gehört natürlich auch die gemeinsame Währung, der Euro dazu. Unser Wohlstand, unsere Erfolge sind ganz wesentlich durch die gemeinsame Währung ermöglicht, die eben den anderen, wirtschaftlich schwächeren Staaten das Instrument der Währungspolitik, der nationalen Währungspolitik, der Abwertung der eigenen Währung aus der Hand genommen hat, so dass wir mit einem deutlich geringeren Außenwert, den der Euro heute hat, als die D-Mark hätte, unsere Exporte verkaufen können. Das ist ein gigantischer struktureller wirtschaftlicher Vorteil.
Darum haben wir einen sehr guten rationalen Grund für Solidarität. Allerdings muss Solidarität auch eingebunden sein in rationale Konzepte. Es ist nicht solidarisch, einfach nur Geld auszugeben, sondern wir müssen auch einen Preis bezahlen und dann das Geld investieren in nachhaltige Strukturen, in tragfähige Strukturen. Das ist schon etwas, worauf man auch bestehen muss, weil es ansonsten keinen wirtschaftlichen Sinn macht.
Aber ich will ein Beispiel nennen, wo es relativ klar ist, dass etwas geht, und auch, was gemacht werden muss. Das ist zum Beispiel die sehr, sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit, wie sie in Italien, aber auch in Frankreich und in anderen Ländern ist. Da waren wir bislang geneigt zu sagen, das sind nationale Probleme. Wir haben keine hohe Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland, also müsst ihr euch damit beschäftigen. – Aber es ist eben ein europäisches Problem, wenn über Jahre hinweg ganze Generationen von jungen Menschen keine Perspektive sehen, sondern eine Jugendarbeitslosigkeit von dreißig, vierzig, das heißt dann regional, lokal fünfzig, sechzig, fünfundsechzig Prozent, besteht, dann können wir nicht erwarten, dass diese jungen Menschen sagen: Hurra Europa. Dies ist eine Zukunft. Wir sind für Marktwirtschaft und für die Europäische Integration.
Das heißt, um die Akzeptanz auch in den jungen Generationen zu erhalten, müssen wir auch ihre Lebenssituation verbessern. Das ist darum auch ein Thema von uns. Ansonsten werden diese Menschen bei Links- und Rechtspopulisten anheuern, weil diejenigen ihre Lebenssituation ansprechen.
Deutschlandfunk Kultur: Beim Stichwort Italien möchte ich gleich mal bleiben. Da zeigt sich ja, dass innenpolitische Verhältnisse ganz schnell auch außenpolitische Wirkungen haben können. In Italien haben wir jetzt eine Koalition von Links- und Rechtspopulisten an der Macht. Das unterstreicht ja, dass wir ohne – ich sage mal – kooperationswillige Partner innerhalb Europas auch nicht besonders weit kommen können.
Norbert Röttgen: Absolut.
Deutschlandfunk Kultur: Wie bewerten Sie denn diese Koalition und ihre Vorhaben? Wie geht man damit um?
Norbert Röttgen: Wenn die Populisten gewinnen, ist es auch immer ein Spiegel der Schwäche der traditionellen Parteien. Das kann mal einen günstigeren Ausgang nehmen wie in Frankreich, wo ja auch die traditionellen Parteien praktisch kaum noch existieren, jedenfalls in der bekannten Weise. Der günstige Ausgang war dann Emmanuel Macron, aber um den Preis, würde ich sagen, der Selbstzerstörung der traditionellen Parteien, der Parti Socialiste und der Konservativen dort.
In Italien hat sozusagen die Selbstzerstörung der traditionellen Parteien einen weniger günstigen Ausgang genommen. Die an sich konträren populistischen Parteien einmal des Nordens, der Lega, und des Südens, die Fünf-Sterne-Bewegung, die auch ökonomisch und politisch völlig gegeneinander stehen, haben sich in einer Negativ-Koalition zusammengeschlossen. Und das ist eine Koalition gegen Europa, gegen Deutschland nebenbei. Darum wird es immer schwieriger, wenn wir die Entwicklung in den Nationalstaaten so zulassen, auf europäischer Ebene noch einen Konsens zu finden.
Die Teilnehmer eines europäischen Konsenses, der etwas zuwege bringt, werden immer geringer. Das ist eine große Gefahr.
Deutschlandfunk Kultur: Wie kann man der Gefahr begegnen? Früher sagte man immer, da ist das deutsch-französische Tandem gefragt. Gibt es das noch oder ist Frau Merkel da nicht ein bisschen zögerlich, auf das zu antworten, was da so an Angeboten und an Kooperationswillen auch aus Paris herüber schallt?
Norbert Röttgen: Frau Merkel hat ja jetzt klare Antworten gegeben – ich meine, übrigens richtungweisend auf die Situation. Es geht ja nicht um eine Antwort auf Macron, sondern es geht um eine politische Antwort auf die politische Situation in Europa. Die hat sie gegeben. Und ich bin davon überzeugt, ja, dass wir Bewegung brauchen in Europa und dass diese Bewegung Ergebnisse, Fortschritt nicht von allen 27 im Moment ausgehen kann, sondern von einer kleinen Gruppe. Der Kern dieser Gruppe sind Frankreich und Deutschland – offen für die Beteiligung anderer selbstverständlich. Aber in dieser gemeinsamen Entschlossenheit müssen wir vorangehen.
Die Wahrheit ist immer, dass Frankreich und Deutschland es zusammen machen müssen, aber eigentlich in allen Fragen relativ weit auseinander liegen. Ob das der Euro ist, ob das die Verteidigung ist und welches Thema auch immer. Trotzdem ist es uns bislang trotz dieser sehr unterschiedlichen Verständnisse, Philosophien und Traditionen immer gelungen, uns zusammenzuraufen. Genau das muss jetzt wieder kommen – dringlich.
Es ist zwei Minuten vor Zwölf. Wir müssen zu Ergebnissen in wichtigen Bereichen kommen. Ich glaube, vor allen Dingen in der Außen-, in der Verteidigungs-, der Sicherheitspolitik, weil, dort kann man auch etwas dazu beitragen, dass sich verwirklicht, was Emmanuel Macron genannt hat. Er will ein Europa, das schützt, schaffen. L'Europe qui protège.
Das ist, glaube ich, ein richtiger Anspruch, den man jetzt auch politisch ausfüllen muss und kann.
Deutschlandfunk Kultur: Ich wollte später zur Sicherheitspolitik kommen, aber ich nehme den Faden jetzt einfach mal auf, weil wir da hingekommen sind.
Sicherheitspolitik ist ein Teil der Außenpolitik. Militärische Sicherheit ist nur ein Teil der Sicherheitspolitik. Aber genau da sind wir am abhängigsten von den USA. Da kommen wir wieder auf unser Ausgangs-Topos zurück. – Warum tut sich Ihrer Ansicht nach Deutschland so schwer damit, seine Bundeswehr endlich wieder abschreckungstauglich zu machen? Denn das, was wir derzeit hören über den Zustand der Bundeswehr, das ist ja kaum fassbar.
Norbert Röttgen: Ja, aber wir tun uns schwer, sozusagen den gewohnten Komfort, den es ab den 90er Jahren gab, abzulegen und wieder mehr uns für die eigene Sicherheit anzustrengen. Ich glaube auch, dass es im Laufe der Zeit eine relativ starke pazifistische Neigung in der deutschen Bevölkerung gibt, die dem Militärischen relativ skeptisch gegenübersteht. Darum müssen wir diese Diskussion komplett neu führen.
In Zeiten des Kalten Krieges waren unsere Militärausgaben über drei Prozent unserer Wirtschaftsleistung. Jetzt sind wir bei 1,24 und bewegen uns in dieser Relation praktisch nicht vom Fleck, auch wenn nominell mehr ausgegeben wird für Verteidigung.
Ich bin ein wirklicher Befürworter, dass wir lernen müssen, dass die Europäer für ihre eigene europäische Sicherheit fast dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges mehr eigene Verantwortung übernehmen müssen – nicht, um Militäreinsätze großartig zu tätigen, aber wir müssen eine europäische Außenpolitik begründen. Wir müssen unsere Rolle in der Welt definieren. Das ist Teil der Globalisierung. Und wenn wir nicht gemeinsame europäische militärische Fähigkeiten haben, nicht um sie einzusetzen, sondern um sie nicht einsetzen zu müssen, dann wird auch unsere Diplomatie und unsere Außenpolitik nicht ernst genommen. Das ist der Grund, warum ich für europäische militärische gemeinsame Fähigkeiten plädiere. Aber es ist ein Mentalitätswechsel, den wir brauchen.
Deutschlandfunk Kultur: Dieser Mentalitätswechsel lässt aber auf sich warten. Da wird schon gemahnt seit langem. Ein amerikanischer Intellektueller hat es neulich auf die Formel gebracht: "Die Deutschen sind das für die europäische Sicherheit, was die Griechen für den Euro sind." – Also, ein Risikofaktor.
Seit längerem reden wir schon davon, dass wir mehr leisten müssen. Es ist eigentlich auch allen klar. Schon unter Obama ging übrigens das böse Wort von den deutschen Trittbrettfahrern, den sicherheitspolitischen Trittbrettfahrern durch die Gegend. – Sehen Sie denn dafür überhaupt eine Perspektive? Ich meine, mit ihrem jetzigen Koalitionspartner, der SPD, scheint da ja auch nichts zu gehen.
Norbert Röttgen: Also zunächst zu dem Risikofaktor: Nein. Wir sind kein militärischer Risikofaktor. Wir sind ohne Zweifel ein militärischer Leistungsfaktor. Das ist völlig außer Frage. Die zahlreichen ausländischen Militäreinsätze, die wir tätigen mit tausenden von Soldaten im Einsatz, laufen exzellent. Wir sind in der zur Verfügungstellung von Infrastruktur für andere in der Kooperation ein hochmodernes funktionelles Element in der Nato-Kooperation.
Aber wir müssen ein stärkerer Leistungsfaktor werden. Das ist keine Frage. Und wir müssen über den politischen Sinn von mehr Verteidigungsfähigkeit reden als ein Teil von Außenpolitik, nicht als Unabhängigkeit von den USA. Davon sind wir meilenweit entfernt, diese erreichen zu können – gerade in Fragen der Sicherheit und der militärischen Leistung und Abschreckung, aber um eine europäische Mentalität der Verantwortung für uns selber zu entwickeln. Da muss sicherlich auch von der Führung dieses Landes Aussagen geben, dass und warum das notwendig ist.
Sie haben Recht. Unser Koalitionspartner in dieser Legislaturperiode ist auf diesem gesamten Gebiet noch schwieriger als es in der letzten Legislaturperiode war. Aus meiner Sicht ist das Ausdruck in gewisser Weise des Überlebenskampfes der SPD, dass sie glaubt, hier mit der Ablehnung von mehr Verteidigungsausgaben ein populäres Thema gefunden zu haben. Ich glaube, dass das ein Irrtum ist, weil es – wie jetzt der sozialdemokratische Außenminister richtig gesagt hat – nicht um Aufrüstung geht, sondern es geht darum, dass wir Lücken schließen. Insofern ist schon zum Beispiel beim Außenminister eine Veränderung eingetreten. Aber die SPD, glaube ich, muss sich offensiver und offener dieser Debatte stellen.
Deutschlandfunk Kultur: Von der Sicherheitspolitik nochmal weg: Wäre es nicht an der Zeit für ein großes gemeinsames Projekt Frankreichs und Deutschlands, das auch richtig Geld kostet, in das beide Partner investieren, das zielt auf die inneren Verhältnisse.
Sie haben die Jugendarbeitslosigkeit zum Beispiel als europäisches Problem genannt. Könnte man nicht einen Fond auflegen, der sich damit beschäftigt und der Jugendarbeitslosigkeit adressiert? Könnte man sowieso für Bildung nicht europäisch mehr ausgeben und dafür sorgen, dass das tatsächlich dann auch die Bürger erreicht?
Norbert Röttgen: Ja, ich glaube, man muss natürlich auch die nationale Verantwortung und die solidarische Verantwortung in ein richtiges Maß bringen. Und man muss genau definieren, wo liegt ein europäischer Mehrwert. Ich glaube, dass in den Fragen der Sicherheit ohne jeden Zweifel und von der Bevölkerung hoch anerkannt, in Deutschland jedenfalls, ein europäischer Mehrwert liegt.
Ich finde auch, das habe ich eben gesagt, bei dem Thema Jugendarbeitslosigkeit erkennen wir, dass in den Staaten es allein nicht vorangeht, und zwar in zentralen Staaten wie Italien und auch Frankreich. Da glaube ich, um die Zustimmung zu Europa zu erhalten, müssen wir solidarisch helfen, hier voranzukommen. Aber wir können natürlich nicht gewissermaßen die Bandbreite von nationalen Aufgaben jetzt alle solidarisch europäisch, und das heißt eben mit fast einem Drittel deutschem Finanzanteil, finanzieren. Das, glaube ich, geht zu weit und wäre eine Überstrapazierung von Deutschland.
Deutschlandfunk Kultur: Aber muss man nicht irgendwann mal da rangehen? Ist es jetzt nicht gerade die Zeit, wo man sagen muss, okay, wir müssen ein großes gemeinsames europäisches Projekt auflegen und damit fangen Frankreich und Deutschland an? Sie haben ja zum Beispiel mal eine deutsch-französische Anleihe beschrieben.
Norbert Röttgen: Ja, das stimmt. Ich stimme dem völlig zu. Wir brauchen ein sichtbares, nachvollziehbares gemeinsames Projekt, bei dem etwas geschieht. Und eine deutsch-französische Anleihe, es gibt keine ökonomischen Instrumente dagegen, wäre ein wechselseitiger Vertrauensbeweis, überhaupt keine Frage.
Eine gemeinsame Armee der Europäer, die nicht die nationalen Armeen ersetzt, die sichtbarer Ausdruck ist, dass unsere Sicherheit ein gemeinsames europäisches Gut ist, dem wir auch eine gemeinsame europäische Ressource und ein Instrument zur Verfügung stellen – und ein, zwei andere Projekte, das ist möglich. Es ist nicht nur möglich, es ist notwendig, um sichtbar zu machen, dass es einen Sinn in diesen Kooperationen gibt und dass man für die Menschen etwas tun kann. Das, glaube ich, würde wieder Legitimation für den europäischen Gedanken stiften.
Deutschlandfunk Kultur: Lassen Sie mich zum Ende des Gesprächs nochmal zum transatlantischen Verhältnis zurückkommen.
Wenn die Diplomatie in eine Sackgasse läuft, wie das derzeit der Fall zu sein scheint im Verhältnis zumindest zu diesem amerikanischen Präsidenten, gibt es Mittel und Wege, gesellschaftliche Klammern zu stärken – ich sage mal: Handel, Direktinvestitionen, Austausch, Schüleraustausch, Studentenaustausch, Tourismus, Kultur – gibt es da Hebel, die man ansetzen und sagen kann, da setzen wir drauf, das fördern wir, ungeachtet der mangelnden Möglichkeiten der Kooperation mit dem Weißen Haus?
Norbert Röttgen: Ich halte das genau für den richtigen Ansatz. Es gibt immer mal wieder Zeiten, wo man eben auch etwas durchstehen muss. Präsident Trump müssen wir jetzt für eine Amtszeit – so sieht es aus – durchstehen. Und das müssen wir auch jetzt, ohne immer überrascht bei ihm zu sein, weil, wir kennen ihn ja jetzt auch, glaube ich, relativ cool tun.
Auf der anderen Seite müssen wir wissen, dass das deutsch-amerikanische Verhältnis viel breiter ist in den gesellschaftlichen Beziehungen, den wissenschaftlichen Beziehungen, den kulturellen, aber auch in den politischen Beziehungen. Dieses Potenzial, was auf beiden Seiten besteht, das müssen wir umso intensiver pflegen, auch darin investieren, gerade weil es an einer anderen ganz wichtigen Stelle Schwierigkeiten gibt, weil wir uns über Grundfragen eben nicht einig sind seit der neuen Politik des Weißen Hauses. Und diese Zeit, die an dieser Stelle schwierig ist, müssen wir durch umso größeres Engagement gerade im zivilgesellschaftlichen, aber auch im politischen Bereich ausgleichen, um damit sozusagen am Ende sogar noch diese Verbindung zu stärken nach einer schwierigen Zeit.
Deutschlandfunk Kultur: Zum Beispiel beim Handel gerät man da aber in ein Dilemma. Denn wie reagiert man auf amerikanische Strafzölle? Indem man sich aufstellt und Gegenzölle entwirft? Oder indem man sagt, lasst uns nochmal drüber reden und uns ein bisschen zurückziehen? – Was meinen Sie? Wie muss man dem entgegentreten, einem solchen Verhalten?
Norbert Röttgen: Auch hier plädiere ich, selbst wenn es jetzt weiter geht, womit ich rechne, ich glaube auch, dass jetzt die Autoindustrie als nächstes an der Reihe ist, plädiere ich weiterhin für Schadenbegrenzung, nicht für Eskalation, nicht die Erklärung eines Handelskrieges. Die wirtschaftlichen Nachteile dieser Politik werden kurz über lang in den USA zuerst Platz greifen. Wir müssen darauf setzen, dass auch dort die Diskussion weitergeht, dass es für diese Politik keine Unterstützung gibt.
Wir dürfen uns nicht durch diese Provokationen und diese Politik, die natürlich Fakten schafft, von unseren Überzeugungen abbringen lassen, also keine Politik des Auge um Auge, Zahn um Zahn, sondern wir müssen unsere Überzeugungen und das, was wir für Errungenschaften halten, verteidigen. Und wir müssen den schädlichen Aktivitäten mit Begrenzung und maßvoll begegnen, aber nicht eskalierend. Jedenfalls, solange es irgendwie geht, sollten wir diesen mäßigenden Ansatz verfolgen nach meiner Einschätzung.
Deutschlandfunk Kultur: Die Sorge, dass die USA sich eines Tages aus Europa zurückziehen könnten und die Europäer ihrem Schicksal überlassen, die ist so alt wie die Nato. Das hat schon Adenauer umgetrieben damals und hat auch maßgeblich zu seiner Hinwendung zu de Gaulle geführt. Aber wenn man sich die letzten siebzig Jahre betrachtet, dann haben die Beziehungen zwischen USA und Europa ja immer innerhalb der Weltpolitik einen Anker der Stabilität eigentlich gebildet.
Glauben Sie, dass diese Rede vom Ende des Westens, die überall auftaucht, schon allein deswegen, weil der Westen sozusagen so notwendig ist für das Florieren der Welt, nicht einfach vorschnell ist?
Norbert Röttgen: Ich halte das für absolut vorschnell und für einen nicht gerechtfertigten Pessimismus. Es gibt immer ein Pendel, das hin und her schwingt. Und wir hatten eine lange Zeit einer großen Globalisierungseuphorie, die nicht alle mitgenommen hat, auch einseitig war. Und jetzt schwingt das Pendel ein bisschen zurück. Es trifft leider sehr stark in der Person des amerikanischen Präsidenten auf eine Politik auch der Isolierung, die Freundschaften und Bündnisse nicht wertschätzt und würdigt. Das ist vorhanden. Das ist aber auch sozusagen eine Sequenz und kein Zustand.
Der Westen und seine Neubegründung und Fortsetzung ist eine Notwendigkeit, wenn wir als eine Minderheit des Westens, der Bürger des Westens in einem normativen Verständnis, wenn wir unsere Lebensform behaupten wollen. Wir sind eine Minderheit zahlenmäßig. Wir sind eine Minderheit in den Überzeugungen. Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, das ist die Lebensform einer Minderheit.
Deutschlandfunk Kultur: Weltweit, meinen Sie.
Norbert Röttgen: Weltweit natürlich. Darum ist es eine existenzielle Frage, dass wir politisch unserer Lebensform Ausdruck und Stärke geben. Das geht nur durch Gemeinsamkeit und nicht mit dem Gegeneinander.
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