Das Ende der Geschichtslügen?

Von Thomas Urban · 06.04.2010
Katyn ist nicht einfach der Name eines gewaltigen Kriegsverbrechens. Katyn - in diesen beiden Silben konzentriert sich das Denken der überwältigenden Mehrheit der Polen über die Geschichte ihres Landes während des 20. Jahrhunderts. Es ist für sie – neben der Wahl eines Polen zum Papst im Jahr 1978 - das herausragende Ereignis des vergangenen Jahrhunderts.
Denn die Ermordung der polnischen Kriegsgefangenen besiegelte endgültig den Untergang des polnischen Staates. Er war nach dem Ersten Weltkrieg wieder entstanden, nachdem er 123 Jahre lang nach den Teilungen Polens von der politischen Landkarte Europas verschwunden war.

Der Name Katyn wiegt auch deshalb so schwer, weil er zum verlogenen Gründungsmythos der Volksrepublik Polen wurde. Stalin nahm nämlich die Forderungen der polnischen Exilregierung in London nach Aufklärung des Verbrechens zum Anlass, mit den Exilpolen zu brechen und ein kommunistisches Marionettenregime für Warschau zu bestimmen. Der Name stand somit für all die Geschichtslügen und -klitterungen des kommunistischen Regimes, das gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit der Polen von den sowjetischen Nachbarn installiert wurde.

Bis zum Zusammenbruch der Parteiherrschaft im Wendejahr 1989 war es offiziell verboten, die Wahrheit zu sagen, die jeder Pole kannte. Den Rang Katyns im kollektiven Gedächtnis belegt auch, dass die Uraufführung des Katyn-Films des Altmeisters Andrzej Wajda vor drei Jahren als Staatsakt inszeniert wurde, sie fand im Warschauer Opernhaus statt, zugegen waren die höchsten Repräsentanten von Staat, Regierung und Kirche.

Dass Monate später Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Vorführung des Films in Berlin besuchte, berichteten alle großen Warschauer Zeitungen auf der Titelseite. Denn dies ist wohl eines der Hauptanliegen der Mehrheit der Polen auch zwei Generationen nach dem Krieg: dass die Nachbarn das Leiden der Nation wahrnehmen, ihre tragische Geschichte. Nur: Die Nachbarn im Osten, die Russen, ignorierten bislang die polnische Martyrologie, zumindest bis heute. Zur großen Überraschung der polnischen Öffentlichkeit lud nämlich der russische Premierminister Wladimir Putin die Warschauer Führung zu einer Gedenkfeier aus Anlass des 70. Jahrestags des Massenmordes ein.

Putin möchte also ganz offenbar diesen Streit beenden. Doch seine Worte dazu stießen in Warschau auf Befremden. Er sagte: "Es war die Sowjetzeit, wir aber sind nicht mehr die Sowjetunion." In Polen wird dem Kreml vorgeworfen, zwar das politische Erbe der UdSSR für sich zu beanspruchen, inklusive sämtlicher Atomsprengköpfe und Botschaftsgebäude überall auf der Welt, den moralischen Ballast der UdSSR aber nicht tragen und erst recht nicht aufarbeiten zu wollen. In der Tat ist das Thema Katyn in Russland wieder weitgehend mit Tabu belegt, nachdem es Anfang der 90er-Jahre zahlreiche Publikationen dazu gegeben hatte. Stattdessen werden die Polen immer wieder als undankbar angeprangert. Denn sie wollten nicht die Befreiung des Landes durch die Rote Armee zum Ende des Zweiten Weltkriegs würdigen.

So sind beide Gesellschaften in ihren Debatten über die nationale Identität weiter auf den Zweiten Weltkrieg fixiert: Die Polen sehen sich als Opfer, die Russen sehen sich als Helden. Doch nun hat ausgerechnet die nationalkonservative Warschauer Tageszeitung "Rzeczpospolita" in der polnischen Debatte neue Akzente gesetzt. Bislang hat die Zeitung immer wieder herausgestrichen, dass die polnischen Offiziere 1940 Opfer der Russen geworden seien. Nun wirbt "Rzeczpospolita" überraschend für Putins Sicht der Dinge: Die Polen sollten Katyn nicht länger als russisches Verbrechen anprangern, sondern es als Verbrechen des kommunistischen Regimes ansehen. Denn unter den Mitgliedern des Politbüros, die 1940 den Befehl zur Exekution der gefangenen polnischen Offiziere unterschrieben haben, waren die meisten keine Russen, angefangen mit dem Georgier Stalin.

Thomas Urban, Publizist, ist seit 22 Jahren Osteuropa-Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung". Er ist Autor mehrerer Bücher über die deutsch-polnischen sowie die deutsch-russischen Beziehungen.
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