Das Eigene gegen das Fremde

Von Jochen Stöckmann · 17.04.2011
Im neuen Buch des Kulturwissenschaftlers Tzvetan Todorov geht es um die Angst vor dem Abstieg - individuell und kollektiv. Die Rolle dieser Barbaren haben seiner Ansicht nach die Islamisten eingenommen.
Barbarei und Zivilisation sind keine absoluten Gegensätze, sondern zwei Pole menschlichen Zusammenlebens, also Bestandteil jeder Gesellschaft. Das ist eine für westliche Demokratien provozierende These, die der Pariser Kulturwissenschaftler Tzvetan Todorov ganz nüchtern verifiziert.

Ihm geht es nicht darum, sich einen Stammplatz in Talkshows über Kopftuchverbote, Selbstmordattentate oder Islamkritik zu sichern. Vielmehr versteht es der gebürtige Bulgare , seinen Lesern mit geduldiger und anschaulicher Argumentation die Augen zu öffnen für einen Ausweg aus dem sogenannten "clash of civilizations", jenem "Kampf der Kulturen", der scheinbar unversehens in einen "Krieg" übergegangen ist.

Zuallererst müssen die Europäer begreifen, dass weder moderne Technik noch avancierte Kunst Gradmesser der Zivilisation sind, sondern einzig und allein die Fähigkeit, den eigenen Umgang mit anderen Kulturen zu reflektieren. Aus dieser Sicht erscheinen etwa jene "dicken Altarklumpen" barbarisch, mit denen der Katholizismus den wunderbaren Säulenwald der Moschee von Cordoba verstopfte.

Auf solche "historischen Kehrseiten" des Christentums hatte bereits der Philosoph Michel Foucault immer wieder hingewiesen. Denn die Wahrnehmung der Fehlentwicklungen im eigenen Land macht uns aufnahmefähig für Einflüsse von außen, für die Integration vorgeblich "barbarischer" Kulturen.

In der aufgeheizten Atmosphäre eines weltweit ausgerufenen "Kriegs gegen den Terror" aber stockt dieser Austausch mit anderen Kulturkreisen. Es kommt zu Krisen- und gar Panikreaktionen:

"Dieses Gefühl der Angst hängt damit zusammen, dass der Westen über Jahrhunderte die Welt beherrscht hat. Doch jetzt ist der Süden der Welt nicht mehr bereit, sich durch eine Handvoll nördlicher Mächte beherrschen zu lassen. Gegen diese Angst kann der Einzelne nichts machen. Aber er kann zumindest einkalkulieren, dass diese Entwicklung bis zu einem bestimmten Punkt sein tägliches Verhalten und seine Weltsicht beeinflusst."

Das ist kein wohlfeiler Appell, sondern ein überaus notwendiger Hinweis auf die Schieflage des öffentlichen Diskurses: War nach 68 "das System" an allem schuld, so ist es heute "der Islam". Tatsächlich aber bestimmt keine Religion die gesamte Existenz eines Menschen, nicht einmal eines fundamentalistischen Attentäters. Das weist Todorov detailliert und anhand von Einzelschicksalen nach.

Damit grenzt er sich wohltuend ab von jenen selbsternannten Experten, deren publizistische Beiträge mehr dem Papier, etwa einer kruden Koran-Interpretation geschuldet sind denn dem wirklichen Leben - dem Zusammen-Leben. Das wird von dem überzeugten Europäer Todorov keineswegs als "Multikulti-Paradies" verklärt, sondern unterliegt einem sehr strikten Prinzip der für beide Seiten einzufordernden Toleranz:

"Es kann nicht angehen, dass Botschaftsgebäude angegriffen oder Bürger anderer Länder ‚zum Tod verurteilt’ werden; das muss allen Regierungen ins Stammbuch geschrieben werden. Es geht also keineswegs darum, freie Kritik zu unterbinden. Aus diesem Grund aber sind nicht nur Rechtsgrundsätze zu beachten, sondern die Einwanderer, die in Europa leben, müssen auch die Anerkennung erfahren, die sie brauchen. Das kann dadurch geschehen, dass man nicht dem Glauben, sondern den Gläubigen Respekt erweist, nicht dem Propheten Mohammed, sondern den einfachen Arbeitern Abdallah und Mustafa."

Damit verfällt Todorov keineswegs in ein humanitätsduseliges "Menscheln". Denn es geht in seinem Buch ebenso um weltanschauliche, oft ideologisch festgefahrene Positionen. Da belässt es der Autor aber nicht bei der bloßen Bestandsaufnahme, sondern spielt in anschaulichen Gedankenexperimenten die wechselseitigen Wirkungen etwa des sich fortschrittlich dünkenden Ethno-Zentrismus, eines für humanitäre Interventionen plädierenden Werte-Universalismus und einer auf Religionsgesetzen beharrenden muslimischen Gemeinschaft durch.

Und wenn er schließlich die "Ressentiments" der seit Jahrzehnten zu kurz gekommenen "Barbaren" als Ursache für gewalttätige Demonstrationen und Terroranschläge heranzieht, dann ist das für Todorov keine Entschuldigung: Er stellt diesen sozialpsychologischen Faktor nur ganz nüchtern in Rechnung. So, wie in Zeiten des Kalten Krieges Entspannungspolitiker ohne ideologische Scheuklappen die Aufstellung des Gegners, des Gegenüber analysierten.

Im Sinne einer angemessenen Politik verwirft Todorov denn auch unter Hinweis auf den Skandal im irakischen Abu Ghraib und die geheimen CIA-Gefängnisse in europäischen Staaten jede Art von Folter als kontraproduktiv. Auch da sind seine Thesen deutlich, die Beweisführung klar und verständlich formuliert.

Genau deshalb hat Tzvetan Todorov kein einfaches Buch geschrieben. Denn seine Schlussfolgerungen muten am Ende dem Leser, den Bürgern, einiges zu: Für diesen Autor reicht es nicht aus, den Protest gegen Folter und jede Art von Menschenrechtsverletzung nur auf dem Papier zu formulieren:

"Nicht nur die Regierungen verhalten sich fragwürdig: Solange die Bevölkerung in diesen Ländern nicht gegen Folter protestiert, ist sie mit schuld an ihrem Fortbestehen."

Tzvetan Todorov: Die Angst vor den Barbaren - Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen
Hamburger Edition, 287 Seiten
Cover: "Tzvetan Todorov: Die Angst vor den Barbaren - Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen"
Cover: "Tzvetan Todorov: Die Angst vor den Barbaren - Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen"© Hamburger Edition