Das Autoritäre in uns

Der geheime Wunsch nach starker Führung

Ein Kommentar von Sieglinde Geisel · 29.11.2018
Ein autoritärer Charakter schlummere in jedem von uns, meint die Publizistin Sieglinde Geisel. Werde dieser erst durch populistische Parolen in großen Teilen der Bevölkerung geweckt, sehe es für die Demokratie schlecht aus.
Die größte Gefahr für die Demokratie besteht bekanntlich in ihrer Abschaffung durch sich selbst. In vielen Ländern erliegen die Wählerinnen und Wähler derzeit der "Versuchung des Autoritären", so ein aktueller Buchtitel des Soziologen Wilhelm Heitmeyer.
Auch in Deutschland hat sich das Spektrum nach rechts verschoben: Wilhelm Heitmeyers Studien zur politischen Einstellung der Deutschen haben im Laufe vieler Jahre ergeben, dass ein stabiler Anteil von 20 Prozent der Befragten rechtsextremen Ansichten zuneigt – ein "vagabundierender Autoritarismus", wie Heitmeyer es nennt.
Jüngst hat nun eine Studie der Universität Leipzig gezeigt, dass sich nicht weniger als 40 Prozent der Deutschen eine autoritäre Regierung vorstellen könnten.

Nach oben buckeln, nach unten treten

Woher kommt diese Sehnsucht nach dem Autoritären? Als man in den 1940er-Jahren nach Erklärungen für das Phänomen des Faschismus suchte, wurde der Begriff des "autoritären Charakters" geprägt. Der autoritäre Charakter, wie ihn etwa Erich Fromm in seiner Schrift "Die Furcht vor der Freiheit" beschreibt, hat sadomasochistische Züge: Man ist bereit, sich einer Autorität zu unterwerfen – und hat selbst wiederum das Bedürfnis, andere zu unterwerfen. Das "Radfahrersyndrom": nach oben buckeln und nach unten treten.
Für die Ausbildung eines autoritären Charakters machte man seinerzeit die Erziehung verantwortlich. Die autoritären Väter sind heute weitgehend verschwunden, nicht jedoch das autoritäre Denken.
Die Vorstellung eines autoritären Charakters gilt daher als überholt. Stattdessen spricht man von einem autoritären Dispositiv: Es schlummert in jedem von uns und kann jederzeit aktiviert werden, sobald bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. Kaum jemand dürfte demnach gegen die Versuchung des Autoritären immun sein.
Genau dies scheint das Ergebnis der Leipziger Studie zu bestätigen: Offenbar wächst der Anteil der Menschen in unserer Gesellschaft, die sich dem Autoritären zuwenden.

Wer Angst hat, sucht Schutz

Doch wodurch wird das autoritäre Dispositiv aktiviert? Der amerikanische Autor William H. Gass hat bereits 1995 in seinem Roman "Der Tunnel" eine "party of the disappointed people" erfunden.
Rechte Bewegungen profitieren von Ressentiments: Im Osten Deutschlands etwa wird die Enttäuschung über die Wende durch das Narrativ von den Betrogenen und Verratenen bewirtschaftet. Auch Formeln wie: "Wir holen uns unser Land zurück" oder: "America first" bedienen das Gefühl der Kränkung.
Doch nicht nur die Enttäuschten dieser Erde neigen zum autoritären Denken. Wer Angst hat, sucht Schutz: Der Wunsch nach einer starken Hand ist eine fast reflexhafte Reaktion auf Ängste, die wohl bei jedem ausgelöst werden können.
Und genau hier setzt das Erfolgsrezept der autoritären rechten Bewegungen auf der ganzen Welt an: Sie schüren Ängste und versprechen Sicherheit, sie konstruieren Sündenböcke, und sie schlachten Terroranschläge propagandistisch aus. Mit allen Mitteln wird der öffentliche Diskurs nach rechts verschoben. Das unausgesprochene Ziel besteht dabei in der Aktivierung des autoritären Dispositivs.

Eigenverantwortung abgeben

Ist es erst einmal aus seinem Schlummer geweckt, wird der Dialog schwierig, denn wer sich einer Autorität anvertraut, gibt die eigene Verantwortung ab. "Unser Präsident weiß, was er tut", so verteidigen die Trump-Wähler ihren Präsidenten immer dann, wenn er seinen Gegnern wieder einmal Anlass gibt, an seiner Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln.
Autoritäres Denken und Demokratie schließen sich gegenseitig aus: Verzichten die Stimmberechtigten darauf, ihre politische Verantwortung auszuüben, ist mit ihnen kein Staat mehr zu machen.

Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti/ZH geboren, studierte in Zürich Germanistik und Theologie. 1988 zog sie als Journalistin nach Berlin-Kreuzberg, von 1994 bis 1998 war sie Kulturkorrespondentin der "NZZ" in New York, von 1999 bis 2016 in Berlin. Sie arbeitet für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin. An der FU Berlin hat sie einen Lehrauftrag für Literaturkritik, an der Universität St. Gallen gibt sie Schreibworkshops für Doktoranden. Buchpublikationen: "Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert" (2008) und "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille" (2010).

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