Das Atelier als Wohnzimmer

Von Anna Bilger · 28.09.2011
Ihre Möbel haben eine Botschaft: Die Berlinerin Judith Seng gilt derzeit als eine der spannendsten deutschen Designerinnen. Sie fordert die Menschen dazu auf, über den Gebrauch ihrer Möbel nachzudenken und ihre alltäglichen Gewohnheiten in Frage zu stellen.
Oben: Eine weiße, glatte Front, unten hängen die Hosenbeine, Hemdsärmel und Rocksäume heraus. Die Türen dieses Kleiderschrankes sind zu kurz, verdecken nur im oberen Drittel die Kleider – "Hide and Show" heißt der Schrank und entworfen hat ihn die Designerin Judith Seng. Warum verstecken wir Kleider hinter Türen? Erzählt es nicht mehr über uns, wenn man unsere Garderobe sehen kann?

"Wie wird ein Objekt benutzt und was sagt das über uns aus über unsere Gesellschaft, ganz klassisches Beispiel: In Mitteleuropa sind die Tische 75 cm hoch, in Japan sind sie viel niedriger, das heißt, ein solches Objekt kann sehr viel erzählen über Kultur und Werte, die sich in diesem Objekt ausdrücken."

Ein Tisch ist für Judith Seng nicht einfach ein Platz zum Essen: Er erzählt, wo und wie wir uns mit anderen treffen. Weil das schon lange nicht mehr nur die Kernfamilie ist, sondern weil es Singles gibt, Patchworkfamilien und Menschen, die zuhause mehr arbeiten, also dort zu wohnen, hat die 36-Jährige "Patches" entworfen: Das ist nicht ein Tisch, es sind vier: Man kann sie aufklappen, ineinanderschieben, einzeln benutzen oder zusammenstellen, ganz wie man es braucht.

Ein Exemplar von "Patches" steht auch in ihrem Atelier in Berlin-Kreuzberg. Sie streicht mit den Händen über das Holz, zieht eine Schublade auf und lacht, als eine Packung mit Kopfschmerztabletten zum Vorschein kommt. Das passiert eben, wenn das Atelier auch das Wohnzimmer ist.

"Das ist ein Experiment, wie sich das entwickelt, aber erstmal genieße ich das sehr, alles an einem Ort zusammenzuhaben, weil man sonst viel Zeit mit Wegen verbringt und dadurch, dass ich viel reise und unterwegs bin, ist es im Moment sehr angenehm."

Judith Seng, schwarzes Kleid, die blonden Haare zum Zopf geflochten: Seit einem Jahr wohnt und arbeitet die Designerin gemeinsam mit ihrem Freund in einer Fabriketage. Zwei Praktikantinnen arbeiten in einer Ecke daran, Tischmodelle aus Holz wieder zu zerlegen.

"Hier ist quasi der Studiobereich ... hier eher Werkstatt ... und hier oben arbeiten wir, also Rechnerarbeitsplätze oder so Besprechungsgeschichten ... und hier fängt der Wohnbereich an. Das geht so ineinander über."

Judith Seng spricht in langen Sätzen, wenn um ihre Arbeit geht. Für Außenstehende klingt das ein wenig verkopft, denn sie ist schnell auf der Metaebene: Dann geht es um "Objekte", "Strukturen" und "Funktionalitäten" - man merkt Judith Seng an, dass sie nebenbei an verschiedenen Hochschulen unterrichtet, sich viel mit Theorien auseinandersetzt. Dabei hat alles ganz praktisch begonnen.

"Ich war auf einer Waldorfschule und da macht man ja sehr viel handwerkliche, künstlerische Dinge ... und wir haben im Künstlerischen unheimlich viele Dinge ausprobiert - und da bin ich einfach dran geblieben und hab freiwillig länger gemacht, Schule war sonst nicht so ... wo ich unbedingt länger gemacht habe, aber bei diesen Dingen, das war einfach mein Medium."

Eine Kindheit im alternativen Bildungsbürgertum: Judith Seng wächst mit drei Geschwistern in Karlsruhe auf, der Vater ist Bauingenieur, die Mutter Lehrerin und beide Eltern sind – bis heute – Yogalehrer. 1995 kommt Judith Seng dann nach Berlin, studiert Produktdesign und wagt den Schritt in die Selbstständigkeit.

"Ich bin jemand, ich arbeite gerne von außen, außerhalb der Struktur ... Es ist einfach ’ne gewisse Freiheit, das ist was ich immer sehr genossen habe ... sei es eine Trendstudie, da beschäftige ich mich mit anderen Dingen, als wenn ich ein Objekt baue. Das ist für mich sehr befruchtend, dieses Ping Pong ."

Sich festzulegen, das ist nicht Judith Sengs Ding. Die Ergebnisse aus ihrem Design-Labor dürfen ein wenig uneindeutig und schwebend bleiben.

"Hier fängt es langsam an, dass die Ersten in den Raum reinkommen und sich orientieren ..."

Am Computer zeigt Judith Seng Fotos von ihrem neuesten Projekt "Acting Things". Ein Abend im Theater: Die Gäste haben die Möbel für ein anschließendes Dinner selbst gebaut.

"Manche haben den Tisch möglichst schnell zusammengekloppt, damit sie schnell essen können, andere haben stundenlang diskutiert, wie wollen wir eigentlich essen und auf welcher Höhe? Es gab auch Tische, die sich im Laufe des Abends noch verändert haben, also es gab ganz unterschiedliche Prozesse."

Aus solchen Beobachtungen leitet Judith Seng Ideen für ihre Arbeiten ab: Dann entsteht eben eine Tischfamilie wie "Patches". Den Freiraum, solche Experimente zu machen hat sie dank eines Stipendiums der Universität der Künste, aber natürlich liegt’ s auch an der Stadt, sagt die Designerin.

"Es gab durchaus ne Zeit, wo ich mit Berlin gehadert habe ... Die Frage ist, entstehen unbedingt die besten Dinge, wenn jeder sich in seinem Schaufenster selbst verwirklicht? Und das Potenzial daran finde ich eindeutig, dass es n Freiraum erzeugt den man nutzen muss, dass man mit Formaten experimentieren kann, für die es noch keine Nachfrage gibt."

Hier kann es sich Judith Seng leisten, uneindeutig zu bleiben - also nicht ein Produkt für den Markt herzustellen, sondern "Objekte" zu schaffen und sich damit nicht zwischen Kunst und Design entscheiden zu müssen.
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