Darmstadt vor der Hessenwahl

Die grün-schwarze Keimzelle

Annalena Baerbock, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, und Tarek Al-Wazir, Spitzenkandidat der Grünen zur Landtagswahl in Hessen und Minister für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung in Hessen, stehen vor einem Wahlplakat.
Vor der Landtagswahl in Hessen: Annalena Baerbock, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, und Tarek Al-Wazir, Spitzenkandidat der Grünen zur Landtagswahl in Hessen © dpa picture alliance/ Jens Büttner
Von Anke Petermann · 25.10.2018
In Darmstadt wurden die Grünen 2011 erstmals stärkste Kraft auf kommunaler Ebene. Die grün-schwarze Koalition, die daraus folgte, leitete die Öffnung der Ökopartei ein. Wie läuft es hier nun im Landtags-Wahlkampf?
"Dann haben wir eine Wahlkampfzeitung ... ", die Darmstädter Grünen-Direktkandidatin Hildegard Förster-Heldmann kann sich die Zeitung sparen. Die Passantin im wollweißen Mantel will ohnehin Grün wählen.
Fahrradpolitik ist der Radlerin wichtig, sie legt täglich die knapp sieben Kilometer zwischen Griesheim und Darmstadt zurück. Wen sie sich als Ministerpräsidenten wünscht? Da muss sie nicht lange überlegen: "Tarek Al-Wazir hätte ich gern als Ministerpräsidenten."
Derzeit ist der 47-Jährige Stellvertreter von Regierungschef Volker Bouffier, aber an Beliebtheit hat Al-Wazir den CDU-Politiker überflügelt. Ob er selbst Ministerpräsident werden will, das ist ihm nicht zu entlocken. Der für seine beißenden Attacken auf die einstige Dregger-Kanther-Koch- CDU bekannte Politiker übt sich in ungewohnter Zurückhaltung: "Ich will vor allem, dass die Grünen in der nächsten Landesregierung stark vertreten sind, und wie stark das sein wird, das haben die Wählerinnen und Wähler in der Hand."
Im Land der knappen Mehrheiten, das zum politischen Experimentieren einlädt. Joschka Fischer wurde 1985 als bundesweit erster grüner Umweltminister im Kabinett des Sozialdemoraten Holger Börner vereidigt, trug dabei die legendären Turnschuhe.
"Irgendwie wird der Wind stärker, kann das sein?" In der Darmstädter Fußgängerzone müssen die grünen Wahlkämpfer rund um Co-Spitzenkandidatin Priska Hinz aufpassen, dass sie nicht vom eigenen Rückenwind davon getragen werden. Immer noch kein Regen in Südhessen. Passanten tun kund, dass sie sich sorgen über die Dürre, übers Klima. Und bekommen ein Wahlkampfprogramm in die Hand gedrückt, in dem Energie- und Verkehrswende ganz oben stehen.

Al-Wazirs besonderes Projekt: Ein Radschnellweg über 30 Kilometer

Al-Wazir, Hessens grüner Spitzenkandidat, bleibt auf dem Boden. Erdet sich mit Spatenstichen, so erzählt er am Rande des Landesparteirats in Frankfurt am Main: "Da sind Schienen dabei, S-Bahn-Stationen, barrierefreie Bahnhöfe dabei, und da ist jetzt auch ein Radschnellweg dabei, und der ist was ganz besonderes."
Deshalb steht der historische Spaten von diesem Projektstart jetzt in seiner Garage, verrät der Wirtschafts- und Verkehrsminister. Hessens erste Velo-Expressroute soll 2022 fertig sein, die 30-Kilometer-Strecke verbindet Darmstadt mit Frankfurt am Main, Kostenpunkt rund 40 Millionen Euro.
Gut investiert, ein grüner Erfolg, findet eine weitere Radlerin, die am Wahlkampfstand mitten in Darmstadt vorbeischaut. Christiane Dömling pendelt die 14 Kilometer nach Seeheim-Jugenheim. Bekannt für die "Seeheimer", also konservative Sozialdemokraten, deren Kreis lange Jahre an der Hessischen Bergstraße tagte. Doch jetzt hat der Öko-Aufbruch den Doppelort 20 Kilometer nordöstlich vom Alt-AKW Biblis erfasst. Dömling, erzählt ihrer Parteifreundin Hinz, sie kenne ...
" ... ganz, ganz viele, die umgeschwenkt sind auf die Grünen - in Seeheim sogar."
"Ja."
"Nein, ich glaube, dass es wirklich viel mit dem Klimawandel zusammenhängt, Plastikverbrauch - all diese Geschichten. Ehrlich gesagt, ich bin ja so eine 68er - es darf nicht wieder 40 Jahre beim Reden bleiben - Stichwort AKWs - sondern da muss einfach was laufen, und ich bin gern bereit, dabei zu sein."
Und dafür Kompromisse einzugehen. Bei Schwarz-Grün hat Dömling vor fünf Jahren erstmal geschluckt: "Am Anfang ja. Aber dann habe ich gedacht: Geht auch. Bin jetzt mal gespannt: Sieht ja alles nach Jamaika aus. Mir wäre Rot-Grün am liebsten oder Rot-Rot-Grün."
Oder Grün-Rot-Rot - doch die neue Stärke in den Umfragen beäugen die Grünen und ihre Anhänger skeptisch. Ob aus Stimmung auch Stimmen werden - zu ungewiss. Selbst die '68er scheinen bereit für eine Jamaika-Reise: Schwarz-Grün plus FDP als Juniorpartner. Ob früher Fundi oder Realo - heute sind sie pragmatisch. Manchen hat die Öko-Partei auf ihrem Weg in die Mitte verloren, wie Dursun Harlak: "Ich war lange Grünen-Mitglied, jetzt bin ich parteilos."
Ausgetreten, weil ihm in der Koalition mit der CDU die sozialen Themen zu kurz kamen. Und weil ihm die Grünen am längst beschlossenen Ausbau des Frankfurter Flughafens nicht genug rüttelten. Harlak wählt jetzt Protest, nämlich Linkspartei. Aber ein Massenphänomen ist das Überlaufen frustrierter Grüner zur Linken derzeit nicht.

Erfolgsgeheimnis in Hessen: "Gönnen können"

Die Darmstädter Bundestagsabgeordnete Daniela Wagner ist seit 1981 für die Grünen auf allen politischen Ebenen unterwegs. Zuletzt erlebte sie, wie die FDP in Berlin ein mögliches Jamaika-Bündnis scheitern ließ. Generell beobachtet Wagner: "Wenn Sie weniger Schnittmengen haben, wenn Sie weniger aufs selbe Wählerspektrum schielen, dann haben sie natürlich auch eine größere Freiheit."
"Gönnen können" nennt Wagner das Erfolgsgeheimnis von Schwarz-Grün in Hessen: Den Koalitionspartner mit den für seine Wählerschaft wichtigen Themen punkten lassen. Die CDU bei der Inneren Sicherheit. Die Grünen bei der Agrarwende. Die Blaupause für das Polit-Experiment mit den Christdemokraten lieferte Darmstadt, hier wurden die Grünen 2011 erstmals stärkste Kraft auf kommunaler Ebene. Grün-Schwarz leitete die Öffnung der Ökopartei ein.
"Ich glaube schon, dass die Entscheidung vor fünf Jahren, auf Landdesebene den Mut aufzubringen, das zu probieren, ein bisschen was mit Darmstadt zu tun hat. s gab immer schon mal in Hessen in einer kleinen Gemeinde Schwarz-Grün. Aber es ist natürlich ein Unterschied, ob ich das in kleinen Gemeinden oder einer Großstadt mache."
Sagt Wagner am Rande eines sogenannten Townhall-Treffs in der Darmstädter Kunsthalle.

Die stärkste Kraft bei jungen Frauen

Grünen-Chef Robert Habeck ist aus Kiel angereist, das zieht. Der Saal ist überfüllt. Über die Rolle der südhessischen Unistadt für die Grünen sagt der Mann aus dem Norden:
"Zum vierten Mal bin ich hier in anderthalb Jahren, habe Fraunhofer besucht, die Mobilitätskonzepte angeschaut, die es in der Stadt gibt, und in der Tat gibt es eine enge Verbundenheit aus zukunftsgewandter Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung und ökologischem Verständnis. Das hat mir immer imponiert. Und insofern kein Wunder, dass hier eine Allianz zwischen Ökos und Wirtschaft entstanden ist. Die braucht es ja auch."
Die komplizierten Regierungsbildungen in Hessen: "spannend".
"Das ist eigentlich eine lebendige Demokratie. Ich kann mit Blick auf meine politische Erfahrung sagen: Ich war ja Minister in einer rot-grünen Regierung und in einer Jamaika-Koalition. Maßgabe war immer, in welcher Regierung können wir am meisten umsetzen. Und jetzt mal ein bisschen nassforsch formuliert: Für die Grünen hat 's eigentlich keinen Unterschied gemacht, mit wem wir regiert haben. Wir haben - ich würde sagen, in der Energiewende, in der Landwirtschaftspolitik, in der Wirtschaftspolitik, in der Umweltpolitik in den beiden Koalitionen etwas das Gleiche getan."
"Also ist es egal, wer unter Ihnen regiert?"
"Das haben Sie jetzt gesagt. So ist es nicht - das ist schon eine demütige Haltung."
Demut statt Übermut ist die Devise. Lea Wreesmann hat neben der Umwelt- und Klimapolitik das Thema Feminismus zur Grünen Jugend gebracht. Dass die Grünen vor allem bei Frauen punkten, liegt wohl auch an der konsequenten Personalpolitik der Partei. Weibliche Führungskräfte haben sich auf allen Ebenen profiliert. Ein Erfolgsrezept? Die 22-Jährige nickt.
"Ja hoffentlich! Also, wir sind die stärkste Kraft bei jungen Frauen - was kann man dazu noch sagen?"
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