Daniel Schönpflug: "Kometenjahre. 1918: Die Welt im Aufbruch"

Versuch eines Epochenportraits

Buchcover: Daniel Schönpflug "Kometenjahre" vor dem Hintergrund einer Automobilfabrik
Buchcover: Daniel Schönpflug "Kometenjahre" vor dem Hintergrund einer Automobilfabrik © Imago /Buchcover "Kometenjahre" vom S.Fischer-Verlag
Von Holger Heimann · 30.09.2017
Daniel Schönpflug wendet sich der Zeit unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs zu. Er verfolgt dabei, wie unterschiedlich Menschen gedacht und gehandelt habe. Und er beschreibt eine Atmosphäre des Aufbruchs weltweit, bleibt dabei aber sehr im Vagen.
Es scheint eine Magie der Zahlen zu geben. Geschichtsbücher, die sich mit einem einzelnen Jahr beschäftigen, sind jedenfalls angesagt. Gern wird die Fokussierung auch gleich im Titel deutlich gemacht. In den Verlagen sind solche Bücher willkommen. Unser historisches Gedächtnis scheint auf die runden Jahrestage regelrecht trainiert zu sein. Titeln zu allerlei Jubiläen ist mithin per se die Aufmerksamkeit gewiss. Demnächst wird an das 100 Jahre zurückliegende Ende des Ersten Weltkrieges erinnert werden.
Manche Bücher dazu sind schon geschrieben. Der Berliner Historiker Daniel Schönpflug hat sich mit "Kometenjahre. 1918: Die Welt im Aufbruch" in Stellung gebracht. Sein Anspruch ist es nicht, eine historische Analyse zu liefern. Das Buch ist vielmehr eine Collage aus Notaten und Beobachtungen von Zeitzeugen mit dem Ziel, die Stimmung einer Zeit zwischen Unsicherheit und Aufbruch einzufangen.
"Die Menschen, von denen auf den folgenden Seiten die Rede ist, sind allesamt Seiltänzer. Ihre ganz subjektive Sicht auf das Geschehen ist ihren Selbstdarstellungen in Autobiographien, Memoiren, Tagebüchern und Briefen entnommen. Die Wahrheit dieses Buches ist die Wahrheit dieser Dokumente. Sie kann mit derjenigen der Geschichtsbücher kollidieren, und manchmal lügen unsere Augenzeugen sogar. Sie erleben staunend das Aufleuchten von Träumen am Firmament, aber auch deren rasches Verglühen und den Aufprall ausgekühlten kosmischen Gesteins in der Wirklichkeit. Tastend schreiten sie voran auf jenem schmalen Grat, der über den Abgrund führt."

Willkürlich anmutende Sammlung

Mit solch angestrengter Bildlichkeit verschont Schönpflug den Leser zum Glück zumeist. Er versucht, nah bei den Akteuren zu sein, überfordern soll die Lektüre niemanden. Problematisch ist vor allem die Konzeption von "Kometenjahre". Schönpflug verfolgt bei seiner Exkursion, die nicht nur in das Jahr 1918, sondern bis 1923 führt, die Ambitionen von ganz unterschiedlichen, häufig prominenten Zeitzeugen. Komponisten, Maler, Schriftsteller, Politiker, Publizisten, Soldaten, Freiheitskämpfer – sie alle treten bei ihm auf. Ebenso weit gefächert sind die Schauplätze: Berlin, Wien, Paris und New York sind lediglich die Hauptorte. Was so geboten wird, ist eine recht willkürlich anmutende Sammlung von Stimmen, Stimmungen und Impressionen mit sehr unterschiedlicher Aussagekraft.
Durchaus nicht alle, die zu Wort kommen, beschäftigen dabei Ideen von einer besseren Gesellschaft. Der spätere US-Präsident Harry Truman, der uns als Artillerieoffizier in den letzten Kriegstagen im November 1918 begegnet, will nur nach Hause zu seiner Liebsten.
"Er würde das feinste Mädchen der ganzen Welt besitzen, mit der er alle Sorgen und Freuden teilen könnte. Er würde einen Ford fahren, mit dem er die USA und vielleicht Frankreich bereisen könnte; dazu ein bisschen Politik und hin und wieder eine Dinner Party. Auch plante er, der Armee eines der Geschütze abzukaufen, mit denen er auf die "Hunnen" geschossen hatte. Das werde dann im Vorgarten seines Hauses aufgestellt, wo es friedlich vor sich hin rosten könne. Nie wieder wolle er einen Schuss abfeuern, das ist sein Traum von einem ganz privaten Frieden."

Über den Tellerrand

Andere träumen von mehr. Doch die hochfliegenden Pläne, die Visionen von einem neuen Leben werden in "Kometenjahre" kaum einmal als solche anschaulich, und so fehlt ihnen jede Kraft. Spürbar machen kann Schönpflug die von ihm lediglich behauptete große Energie der Zeit, die sich in Tagebüchern und Briefen niedergeschlagen habe, nur selten. Wir wissen, dass der Architekt Walter Gropius ganz neu und anders bauen wollte und später bauen ließ. Wie es dazu kam, wird nicht erlebbar. Virginia Woolf hat die Literatur geprägt und verändert, aber die von Schönpflug zitierten Tagebuchpassagen machen in erster Linie nur deutlich, wie nervös sie den Rezensionen ihres Romans "Jacob’s Room", der 1922 erschien, entgegensah.
"Und was sind meine Prognosen für den Verkaufserfolg des Jacob? Ich glaube, wir werden 500 verkaufen: danach wird es langsam weitergehen & bis Juni die 800 erreicht haben. Man wird es mancherorts überschwänglich für seine "Schönheit" loben; und die, die menschliche Charaktere wollen, werden es heruntermachen. Ich kann es nicht ertragen, wenn ich in aller Öffentlichkeit gedemütigt werde. Aber es ist mein voller Ernst, wenn ich sage, dass mich nichts von meinem Entschluss, weiterzumachen, abbringen wird, oder etwas an meinem Vergnügen ändert, egal, was also passiert, wenn die Oberfläche auch aufgewühlt ist, so ist doch das Zentrum geschützt."
Schönpflugs Ehrgeiz ist es, nicht bloß eine Atmosphäre des Aufbruchs in Europa vorzuführen. Die arabische Welt und Indien etwa nimmt er auch in den Blick. Doch hier bleibt sein Ansatz, nur schlaglichtartig einen biografischen Ausschnitt zu erhellen, erst recht im Ungefähren und Vagen stecken. Um etwa der von Gandhi angestoßenen indischen Unabhängigkeitsbewegung näher zu kommen, ist mehr nötig, als ein paar Szenen aus dem Leben des Revolutionärs aneinander zu reihen.
Der Erkenntnisgewinn für die Leser von "Kometenjahre" ist so insgesamt leider nur gering. Vielleicht aber wollte Daniel Schönpflug auch lediglich zeigen, wie extrem unterschiedlich Menschen mit dem dramatischen historischen Einschnitt von 1918 umgegangen sind. Das zumindest ist ihm in Ansätzen gelungen.

Daniel Schönpflug: Kometenjahre. 1918: Die Welt im Aufbruch
Fischer Verlag, Frankfurt am Main
320 Seiten, 20 Euro

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