Dagestan im Nordkaukasus

Wenn Anti-Terror-Ermittler sogar im Kindergarten erscheinen

Blick auf Machatschkala - die Hauptstadt der russischen Nordkaukasus-Republik Dagestan
Machatschkala, Hauptstadt von Dagestan: 15.000 auf der Gefährder-Liste des Staates bei drei Millionen Einwohnern im ganzen Land © Deutschlandradio/ Gesine Dornblüth
Von Gesine Dornblüth · 21.06.2017
In Dagestan bekämpfen sich islamistische Untergrundkämpfer und Sicherheitskräfte, viele Kämpfer der Terrormiliz IS im Irak und Syrien stammen aus der Nordkaukasus-Republik. Ihre Erben bleiben daheim, wo die Gefahr steigt und die Polizei nervöser wird. Ermittelt wird sogar im Kindergarten.
Freitagmittag in Machatschkala, der Hauptstadt der russischen Nordkaukasusrepublik Dagestan. Eben noch war der Platz vor der Tangim-Moschee leer. Nun fahren Autos vor, eines nach dem anderen. Ein Mann zeigt den Fahrern Parklücken, winkt sie ein. Sein Bart reicht ihm bis auf die Brust. Der Muezzin ruft.
Die meisten Moscheen in Dagestan gehören zur Strömung des Sufismus, der gemäßigten Richtung des Islam, die seit Jahrhunderten in Dagestan verbreitet ist. Die Tangim-Moschee dagegen ist salafistisch. Ein Prediger, der hier verkehrte, schloss sich 2015 dem sogenannten Islamischen Staat an und warb dafür im Internet.
Das hatte Folgen. Die Polizei kam und nahm 200 Personen fest. Seitdem kommt es vor der Moschee immer wieder zu Festnahmen, meist nach dem Freitagsgebet. Kürzlich filmte ein amerikanisches Fernsehteam das Vorgehen der Polizei und wurde auch gleich mitgenommen.

Festnahmen nach TV-Bericht über die Moschee

Ein Mann kommt auf mich zu und fragt:
"Was wollen Sie hier?"
Ich sage ihm, dass ich Journalistin bin. Er weist mich zurecht:
"Journalisten dürfen nicht in die Moschee. Nicht, nachdem neulich die ausländischen Fernsehleute hier waren und es wieder Festnahmen gab."
Zwei Männer auf einer Brücke filmen das Geschehen - offensichtlich Geheimdienstmitarbeiter.
Der Iman spricht über Fastenregeln des Ramadan.
"Schwangere und stillende Frauen haben das Recht, nicht zu fasten, wenn es ihnen schwer fällt oder die Milch ausbleibt. Dafür aber müssen sie die Hälfte des Essens eines Monats den Armen geben. Als Monatsmaß gelten 300 bis 400 Kilo."
Unterdessen sammelt sich in den Nebenstraßen Polizei. Mannschaftswagen, Uniformierte in Gruppen. Nach dem Gebet geht es dann schnell: Warnschüsse fallen. Uniformierte rennen über eine Straße. Wieder gibt es einzelne Festnahmen.

"Das ist eine Hexenjagd"

Ikramudin Alijew ist Bauunternehmer. Sein Bart ist tiefschwarz. Auch er wurde schon mehrfach von der Polizei festgehalten.
"Das ist eine Hexenjagd. Wie im Mittelalter. Sie sagen: Der geht in die falsche Moschee. Oder der betet falsch. Sie gucken auf die Länge der Hosen und ob einer einen Bart hat. Niemanden interessiert, wer du bist. Sie nehmen junge Leute mit Gewalt fest, bringen sie zur Polizei, nehmen Fingerabdrücke, Blut- und Speichelproben, machen Fotos und lassen sie dann wieder laufen."
Die Behörden haben nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Memorial umfassende Gefährder-Listen angelegt. 15.000 Namen sollen darauf stehen – bei einer Bevölkerung von nicht einmal drei Millionen. Die Behörden leugnen die Existenz solcher Listen.
Alijew erzählt, dass Menschen, die auf der Liste stünden, immer wieder von der Polizei aufgesucht würden; sie müssten stundenlang Fragen beantworten, bekämen Probleme am Arbeitsplatz. Es treffe vor allem Salafisten, Angehörige von Extremisten, ihre Bekannten. Dabei gebe es auch viele Salafisten, die Terrorismus und Gewalt ablehnten, sagt der Baunternehmer. Dennoch würden sie Opfer von Gewalt - bei der Polizei in Dagestan. Dort werde nämlich gefoltert, so Alijew.
"Manch einer nimmt das hin. Manch einer kriegt Angst. Manch einer aber sagt sich: Warum soll ich das ertragen? Die quälen die jungen Leute ja nicht nur ein bisschen, sie setzen sie auf Flaschenhälse und solche Dinge. Und so beschließt manch einer, sich zu rächen. Wer klug ist, wartet, dass er an den gelangt, der ihm das angetan hat. Andere sagen: Bullen sind alle gleich, die muss man alle töten. So entsteht die Spirale der Gewalt."

IS-Strategiewechsel: Kämpfen in der Heimat

In Dagestan gibt es bewaffnete Untergrundkämpfer. Diese Kämpfer haben dem IS Treue geschworen und verstecken sich in den Wäldern und Bergen Dagestans. Die Gewalt schwappte Ende der 90er Jahre aus dem benachbarten Tschetschenien herüber. Noch immer halten in Dagestan die Gefechte zwischen islamistischen Untergrundkämpfern und Sicherheitskräfte an.
Jekaterina Sokirjanskaja, Kaukasus-Expertin der International Crisis Group, erklärt:
"Dagestan ist seit 2009 das Epizentrum des bewaffneten Kampfes im Nordkaukasus. Der Konflikt hat sich zwar merklich beruhigt, aber seit 2016 steigen die Opferzahlen wieder. Die Zahl der getöteten Sicherheitskräfte hat sich gegenüber dem Vorjahr fast verdoppelt."
2016 verloren 22 Polizisten bei Anschlägen oder Antiterroreinsätzen ihr Leben. In den Jahren 2013 und 2014, während der massenhaften Polizeiaktionen, reisten ganze salafistische Familien aus Dagestan in den Nahen Osten aus - zum IS. Nach Angaben der russischen Behörden kämpfen 1200 Männer aus Dagestan in den Reihen der Terrorfront in Syrien und im Irak. Mittlerweile hindert Russland aber die Radikalen an der Ausreise. Jekaterina Sokirjanskaja warnt, das erhöhe die Terrorgefahr in Dagestan noch.
"Ich denke, dass der Untergrund hier wieder aktiver geworden ist, hängt damit zusammen: Dass die, die nicht ausreisen können, sich wieder aufmachen, um in ihrer Heimat zu kämpfen. Der IS hat ja auch die Strategie gewechselt: Wenn sie früher alle aufgerufen haben, dort hin zu reisen, sagen sie jetzt: Kämpft dort, wo ihr seid."

Behörden reden terroristische Bedrohung klein

Die Behörden in Machatschkala reden die Bedrohung klein. Fatina Ubaidatowa arbeitet in einer Anti-Terror-Kommission der Regierung. Bis vor kurzem war sie Polizeisprecherin.
"Es ist ruhig. Es gibt fast keine extremistischen Moscheen mehr. Daher kann ich voller Überzeugung sagen: Es gibt in Dagestan keine terroristische Bedrohung."
Aber warum dann die Festnahmen freitags an der Tangim-Moschee? Warum die umfassenden Überwachungen? Die ständigen offenbar willkürlichen Kontrollen?
Ubaidatowa antwortet mit Verzögerung:
"Das ist einfach... Ehrlich gesagt, diese Moschee... Dauernd wird danach gefragt... Wie soll ich sagen... Das ist Vorbeugung. Kontrollen bringen viel."

Polizeibesuch im Kindergarten

Am Nachmittag holen Mütter ihre Kleinen in einem Kindergarten in Machatschkala ab. Die Frauen sind verschleiert, die meisten Mädchen ebenso.
Im oberen Stock des Kindergartens bekommen Jungen Nachhilfe, lernen Arabisch und lesen im Koran. Die Sommerferien stehen bevor. Zur Abschlussfeier sind die Eltern gekommen. Die Jungen sagen Auszüge aus der Abschiedspredigt des Propheten Mohammed auf.
"Die Rechte der Frauen bestehen darin, dass ihr sie materiell versorgt. Behandelt sie wohlwollend, denn sie sind wie Gefangene an euch gebunden und besitzen nichts allein. Ihr habt sie zur Frau genommen wie ein von Allah anvertrautes Ding."
Der Lehrer korrigiert: "Wie ein von Allah anvertrautes Gut."
Die Direktorin des Kindergartens, Zarema Alijewa, steht in der Tür und lächelt. Die 37-Jährige hat Orientalistik studiert und an der Universität in Machatschkala unterrichtet.
"Wir haben ständig Schwierigkeiten mit der Polizei. Dort gibt es einen Jugenddienst, der schickt ständig Inspektoren. Manchmal kommen Bewaffnete mit. Das ist nicht lustig. Erst neulich wieder waren sie zu dritt hier, Männer mit Splitterschutzwesten und Maschinengewehren. Klar, wir leben in einer schwierigen Region. Aber solche Aktionen wirken nicht positiv. Man muss doch zuallererst an die Psyche der Kinder denken."
Die Männer hätten Listen mit Namen der Kinder und ihrer Eltern gefordert, erzählt Zarema Alijewa. Sie hat Angst, dass die Eltern ihre Kinder jetzt aus der Betreuung nehmen.

Misstrauen beim Umgang mit der Polizei

Ihr Mann kommt vorbei, der Bauunternehmer Ikramudin Alijew, der vor der Moschee festgenommen wurde. Er war zu Fuß unterwegs und wurde von einem Verkehrspolizisten angehalten. Nun berichtet er.
"Er rief mich und forderte meinen Namen, Familiennamen und Vatersnamen. Ich habe gesagt: Kümmere dich um Autos, du bist ein Verkehrspolizist. Dann kamen noch zwei dazu, haben mich umstellt. Ich habe gedroht: Ich rufe meinen Anwalt, ihr bekommt dann Probleme. Während ich das sagte, hörte ich, wie einer dem anderen zuflüsterte: Hast du das Ding dabei? - Nein – Geh zum Auto und hol es her. Ganz leise sagten sie das, damit ich nichts höre. Mir war klar, sie wollen mir etwas unterschieben. Gewöhnlich machen sie das mit Drogen oder einer Patrone. Ich bin schnell dichter an ein Gebäude herangegangen, dort gab es Überwachungskameras. Damit ich beweisen kann, wenn sie mir Unrecht tun. Sie haben mich eingeholt und geschubst, ich bin hingefallen, ich hatte Schürfwunden an den Knien und an den Händen, mein Telefon ist kaputt gegangen."
Er redet sich in Rage. Polizeistaatliche Methoden seien das. Fatina Ubaidatowa von der Anti-Terror-Kommission der Regierung bügelt solche Vorwürfe kurzangebunden ab: "Das ist kein Thema. Die Dagestaner vertrauen der Macht. Zumindest im Hinblick auf die Terrorbedrohung."
Ob das tatsächlich so ist, lässt sich schwer sagen. Auf das Thema Terror angesprochen, winken die meisten Menschen in Dagestan ab: Dazu wollten sie sich nicht äußern. Viele haben Angst. Angst, mit den Extremisten in Verbindung gebracht zu werden und deshalb Probleme mit den Behörden zu bekommen. Die meisten Bewohner Dagestans gehen ihrem Alltag nach, versuchen, nicht aufzufallen. Da die Anschläge weniger geworden sind, lässt sich die Terrorgefahr verdrängen.

Das große Schweigen bei Fragen nach dem Terror

Zwei Männer vor der Privokzalnaja Moschee in Schamchal, russische Nordkaukasus-Republik Dagestan
Die Privokzalnaja Moschee in Schamchal: "Wir reden über das Thema nicht"© Deutschlandradio / Gesine Dornblüth
Schamchal ist eine Siedlung, die etwa eine Stunde von der Hauptstadt Dagestan entfernt ist. Rund 12.000 Einwohner. Einzelne Häuser, hohe Mauern. Eine Bahnstrecke teilt den Ort. Wind treibt Staub über die Gleise. Aus Schamchal mit seinen 12.000 Einwohnern sind etwa zwanzig Menschen zum IS oder in den Untergrund gegangen, erzählen die Bewohner. Keiner will das ins Mikrofon sagen. Vor wenigen Jahren wurde die Direktorin der Schule in Schamchal von Radikalen hingerichtet. Sie hatte kritisiert, dass immer mehr Mädchen in der Schule ein Kopftuch tragen.
Schamsudin und Gamsat gehen für das Interview ins Büro eines Taxiunternehmens. Ihre Nachnamen wollen sie für sich behalten. Die beiden gehören zum Vorstand der geschlossenen Moschee. Sie seien wahre Muslime und selbstverständlich gegen Gewalt. Vor einer klaren Verurteilung des IS, zumal ins Mikrofon einer Journalistin, schrecken sie allerdings zurück.
Gamsat sagt nur: "Wir reden nicht über das Thema nicht."
Schamsudin springt ihm bei: "Wir haben keine zuverlässigen Informationen. Und wenn wir uns zu den einen oder anderen äußern, dann sündigen wir. Das ist undurchsichtig dort, und wir können nicht sagen, dass eine Seite gut, die andere schlecht ist."

Iman auf einer Todesliste von Terroristen

Imam Kostek Machatsch Bammatchanow vor Moschee in Kostek (Dagestan)
Imam Bammatchanow: "Traue beiden Seiten alles zu."© Deutschlandradio / Gesine Dornblüth
Machatsch Bammatchanow redet über seine Angst. Er ist Imam in der Zentralmoschee in der Kleinstadt Kostek. Sein Name stand auf einer Todesliste, die die Polizei vor drei Jahren bei einem getöteten Terroristen fand.
"Damals bin ich nur noch mit Freunden, Nachbarn oder Verwandten auf die Straße und in die Moschee gegangen. Ich war nie allein. Wenn jemand im Ort einen Verdächtigen gesehen hat, hat er mich angerufen und gesagt: Geh nicht raus bis wir uns melden. Mittlerweile hat es sich beruhigt. Ich weiß nicht, ob es die Listen noch gibt. Aber was kann ich machen? Natürlich gibt es noch eine Bedrohung."
Bammatchanow hat in Ägypten und in Medina studiert und einige Jahre in der Regierung Dagestans gearbeitet. Er hat in Kostek eine öffentliche Veranstaltung organisiert und dabei den Terrorismus verurteilt. Ein Video seines Auftritts ist im Internet zu sehen. Und er hat viele persönliche Gespräche mit jungen Leuten geführt, die überlegten, sich den Extremisten anzuschließen.
"Einer hat in Petersburg studiert. Er war aus der Universität geworfen worden, traute sich aber nicht, das seinen Eltern zu sagen. Er wollte sogar in den Wald gehen, um die Schande zu vermeiden. Ich konnte ihn in nur drei Minuten umstimmen. Auf andere musste ich Tage lang einreden. Er war offenbar nicht sehr überzeugt. Er hatte einfach Angst. Das war 2010."
Später sei der junge Mann allerdings doch nach Syrien gefahren. Er sei dort getötet worden, erzählt Bammatchanow.

... und auf der Gefährder-Liste des Staates

Trotz seines Engagements gegen den Terrorismus geriet auch Bammatchanow auf die Gefährder-Liste des Staates. Er hat dagegen geklagt und bekam sogar Recht. Dennoch bekommt er weiterhin regelmäßig Besuch von der Polizei.
Mittlerweile wisse er gar nicht mehr, vor wem er größere Angst habe, vor islamistischen Terroristen oder vor den russischen Sicherheitskräften.
"Ich traue beiden Seiten alles zu. Denn ich kritisiere die einen wie die anderen, wenn sie gegen Gesetze verstoßen."
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