"Da lehne ich mich ganz ruhig zurück"

Dieter Kosslick im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 01.02.2010
Die Filmfestspiele in Berlin, die dieses Jahr zum 60. Mal stattfinden, werden nach Ansicht ihres Leiters Dieter Kosslick noch ihren 100. Geburtstag erleben. Die Leute wollten kuratierte Filme anschauen und nicht im Datenmüll des "audiovisuellen Wahnsinns" untergehen.
Klaus Pokatzky: Oscar Martay war Film Officer bei der Militärregierung der USA in Berlin. Auf seine Initiative hin gab es 1951 die erste Berlinale. Zur Eröffnung unter dem Motto "Schaufenster der freien Welt" wurde Alfred Hitchcocks "Rebecca" präsentiert. Ab Donnerstag der kommenden Woche ist es dann wieder soweit: Zehn Tage wird Berlin, mittlerweile also zum 60. Mal, zum Tummelplatz für Filmenthusiasten. 139 Länder sind vertreten. Dieter Kosslick ist seit neun Jahren Direktor der Berlinale und hat heute Vormittag auf einer Pressekonferenz im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung das Programm vorgestellt. Ihn darf ich jetzt dort in unserem Übertragungswagen begrüßen. Guten Tag, Herr Kosslick!

Dieter Kosslick: Hallo!

Pokatzky: Herr Kosslick, der Eröffnungsfilm kommt diesmal aus China und stammt von – ich hoffe, ich spreche den Namen jetzt richtig aus, chinesische Namen sind ja immer etwas kompliziert – Wang Quan'an. War das richtig?

Kosslick: Perfekt!

Pokatzky: Danke ... dem Regisseur, der vor drei Jahren mit "Tuyas Hochzeit" den Goldenen Bären gewonnen hat. Jetzt wird also zur Eröffnung seine Liebesgeschichte "Tuan Yuan" gezeigt, und das klingt nicht gerade nach Stars auf dem roten Teppich zum Beginn. Werden die Berliner da nicht traurig sein?

Kosslick: Das glaube ich nicht, sondern nur so ein paar Journalisten, wo Sie jetzt auch schon so eine Frage stellen. Können Sie vielleicht bis Freitag warten, dann haben wir gleich Pierce Brosnan da und Ewan McGregor und noch ein paar große Stars, nachts Shah Rukh Khan und am nächsten Tag kommt schon Leonardo di Caprio. Wir sollten vielleicht mal die Tassen ein bisschen im Schrank lassen.

Es geht ja beim Filmfestival doch nicht nur darum, dass wir nun jeden Tag eine Starkanonade hier übern roten Teppich jagen. Wir haben einen wunderschönen Film, der erzählt eine wunderschöne Liebesgeschichte von einer Familie, die politisch getrennt worden ist in China und dann versucht, wieder zusammenzufinden nach 30 Jahren. Das ist auch ein Wiedervereinigungsfilm, und wir befinden uns im 20. Jahr der Wiedervereinigung, und ein Geburtstag hat auch was mit Symbolen zu tun. Und da unser Thema sowieso bei der Berlinale Familie ist – das zieht sich durch alle Sektionen –, ist das eigentlich unser idealer Film. Und wer die Chinesen jetzt nicht erkennt, dem kann ich nur sagen: Aufpassen! Zhang Yimou wurde vor 20 Jahren auch nicht erkannt, heute hat er die Olympiade eröffnet.

Pokatzky: Und vor 20 Jahren wurde ja auf der Berlinale die Filmnation China für den Rest der Welt entdeckt. Was wird denn die nächste Filmregion sein, für die uns die Berlinale die Augen öffnen will?

Kosslick: Na ja, wir versuchen natürlich immer, wie es so schön heißt, die unterrepräsentierten Filmländer zu zeigen. Wir haben Filme von afghanischen Regisseuren, türkischen Regisseuren, rumänischen Regisseuren – so eine ganz neue Filmnation wird es nicht geben, weil im letzten Jahr haben ja alle mal nach Peru geschaut mit dem Goldenen-Bären-Gewinner, mit
"La Teta Asustada". Da wunderte man sich doch, was in Peru so gemacht wird. Mal sehen, vielleicht am Ende der Berlinale haben Leute eine neue Region entdeckt, jedenfalls – Sie haben es ja schon gesagt – insgesamt sind es 145 Länder, die auf der nächsten Berlinale vertreten sind. Wenn man weiß, dass es nur 193 gibt, dann sind wir hier schon eine ganz eine kleine Film-UNO.

Pokatzky: Es sind ja jetzt die 60. Internationalen Filmfestspiele Berlin, also ein Jubiläum – wie weit blicken Sie denn auch auf diese sechs Jahrzehnte zurück, wie viel Zeit und Platz räumen Sie einem Blick in die Vergangenheit ein?

Kosslick: Ja, also wenn man einen Geburtstag feiert, dann ist ja immer ein bisschen Rückblick, und wir wollen natürlich die Zeit noch mal aufleben lassen 1951, Kalter Krieg, Sie haben es ja geschildert. Wir schauen zurück mit einer Retrospektive von 40 Filmen, was die Berlinale gemacht hat. Unser Plakat übrigens zeigt 15.476 Filme, die jemals auf der Berlinale gezeigt worden sind. Und man kann sie lesen.

Und wir wollen noch mal eine ganz andere Art von Rückschau, nicht nur Berlinale, sondern des deutschen Films machen: Wir zeigen die frisch restaurierte Kopie von "Metropolis", die zweite Weltpremiere nach 83 Jahren, im Friedrichstadtpalast mit Rundfunksinfonieorchester übertragen aufs Brandenburger Tor, wo auch noch ein großer Kunstvorhang hängt. Also Erinnerung wird es genug geben, aber wir blicken auch in die Zukunft, gehen in die Kieze zu den anderen Kinos. Wir möchten, dass ganz Berlin seine Berlinale feiert.

Pokatzky: Ich spreche mit Dieter Kosslick, dem Festivalleiter der 60. Internationalen Filmfestspiele Berlin, über das Programm seiner Berlinale vom 11. bis zum 21. Februar. Herr Kosslick, es wird in diesem Jahr mit "Berlinale Special" eine Filmreihe geben, die vielleicht geeignet sein wird, einiges durcheinanderzuwirbeln. Kritiker sprechen ja manchmal von Dieter Kosslick'schen Lieblingsstücken, die zwar formal oder inhaltlich zwar nicht ganz den Auswahlkriterien genügten, aber die immer Stars bieten oder namhafte Regisseure. Welche Philosophie sehen Sie denn hinter dieser Dieter-Kosslick-Reihe?

Kosslick: Ja, die Dieter-Kosslick-Reihe ist eine Reihe, die dem Publikum gewidmet ist. Wir haben letztes Jahr im Friedrichstadtpalast zum ersten Mal die Erfahrung gemacht, dass dort Filme in einer ganz besonderen Art vorgeführt werden können. Und es gab eine unglaubliche Stimmung in diesem Friedrichstadtpalast und fast 40.000 Leute sind da hingegangen, obwohl, das war ja ein ganz neues Kino, was da hergestellt worden ist. Das wollen wir wiederholen, und wir haben dort tatsächlich – Sie sagen es – Filme mit großen Stars, wir zeigen auch das Remake von "8 1/2" mit Daniel Day Lewis, und ich hab da überhaupt gar kein Problem.

Die "Berlinale Special" trägt dem Rechnung, dass wir jedes Jahr Klagen gehabt haben, dass wir nicht genügend Karten haben. Jetzt können wir dem Publikum jeden Tag Hunderte von Karten, teilweise Tausende von Karten mehr geben, und ich fühle mich auch dem Publikum verpflichtet, und das ist, wenn Sie das wollen, es ist die Dieter-Kosslick-Reihe, aber das sind ganz normale Galas, andere Filmfestivals haben so was auch. Und solange das Publikum strömt, ist es legitim, wenn sie nicht mehr kommen, dann hören wir sowieso auf.

Pokatzky: Manchmal hört man auch Kritik, dass die Berlinale so ein wenig in Richtung Verzettelung gehe. Also hier gibt es noch eine kulinarische Reihe, da gibt es noch was Neues, das können wir natürlich auch wohlwollend unter Vielfalt verbuchen, als Bereicherung ansehen. Welche sagen wir mal kleine Satelliten kreisen denn diesmal noch um die traditionellen Reihen Wettbewerb, Panorama, Forum, Generation, also die Kinder- und Jugendfilmreihe?

Kosslick: Also es war schon so, als ich vor 20 Jahren auf der Berlinale war, war sie viel zu groß und viel zu unüberschaubar und man hat es sowieso nicht begriffen. Das hat sich auch nicht geändert, es gibt jetzt viel mehr Reihen, aber Sie dürfen nicht vergessen, wir leben in einer völlig anderen Zeit, und wir bieten viele Berlinalen an, nicht eine. Letztes Jahr sind 500.000 Mal Leute ins Kino gegangen, wir müssen diesen Leuten auch was bieten. Wir haben mehr als 4000 Journalisten hier in Berlin. Sie können nicht einfach jetzt hier zehn Filme laufen lassen, wo Sie nur 1000 Karten haben, und die anderen stehen draußen und frieren.

Ich habe da eine völlig andere Auffassung: Die Lebensmittelabteilung des KaDeWe ist auch nicht übersichtlich, aber die Leute fühlen sich wohl, gehen da hin und finden vielleicht am Ende, was sie suchen. Trotzdem sind alle Programme kuratiert, das heißt, alle Filme sind gesehen. Wir zeigen nicht einfach so einen Film. Und die Masse an Zuschauern und an normalem Publikum – denn die Berlinale ist ja auch nicht teuer, wir sind sexy, aber auch leistbar, man kann bei der Berlinale ins Kino gehen –, die zeigt ja, dass das der richtige Weg ist. Und die Berlinale war immer ein Publikumsfestival, und nach dem richte ich mich. Und da kann man mir diesen Vorwurf machen.

Ich will gar nicht Vielfalt dagegensetzen, sondern ich sage nur, es sind völlig unterschiedliche Zielgruppen, zum Beispiel bei "Forum Expanded", wo wir mit Galerien und Fotogalerien zusammenarbeiten. Die Welt ist heute anders. Jeder surft im Internet, wir bieten quasi eine reale analoge Parallele in der Wirklichkeit, und die kann natürlich nur aus möglichst vielen unterschiedlichen Dingen bestehen und nicht aus wenigen.

Pokatzky: Wenn Sie das Internet ansprechen, dann ist ja die Frage bei diesen Möglichkeiten ständiger Zugriffe zu Filmen, die ich mir runterladen kann: Welche Zukunft hat da die Berlinale und welche Zukunft haben überhaupt Filmfestivals?

Kosslick: Da kann ich mich nur zurücklehnen: Runterladen ist ungefähr der Ersatz für Grillen geworden, das ist ein Männergeschäft. Da laden Leute 50.000 Filme runter und haben dann nach drei Jahren bemerkt, dass sie nicht einen einzigen angeguckt haben. Also da lehne ich mich ganz ruhig zurück, da sehe ich die Konkurrenz relativ wenig. "Avatar" hat gezeigt – es ist ja große Werbung fürs Kino –, dass man bestimmte Sachen nur im Kino und auch in dieser Größe sehen kann. Die Leute zahlen ja auch zum Teil das Doppelte als normalerweise ins Kino. Das ist der eine Punkt.

Der andere Punkt, wenn Sie gerade Internet ansprechen, und zwar nicht als Runterladen, sondern als Möglichkeit, Tausende Sachen zu sehen: Wir möchten was Kuratiertes den Leuten geben, wir sagen, wir haben für euch schon mal vorgeguckt, ihr könnt uns vertrauen und wir haben das ausgewählt aus dem Universum. Und die Leute mögen so was und nicht einfach im Datenwahnsinn und im Datenmüll untergehen.

Pokatzky: Gibt es die Berlinale noch in 40 Jahren, wird sie dann ihr 100. feiern?

Kosslick: Ja, da bin ich mir ziemlich sicher. Sie wird wahrscheinlich anders aussehen, auch technisch anders sein, aber es wird immer in Zukunft Festivals geben und Dinge geben, wo andere Leute etwas bewusst auswählen und andere Leute denen vertrauen und dorthin gehen.

Ich glaube, dass sogar das viel wichtiger wird, als es in der Vergangenheit war, weil der einzelne Mensch findet sich in diesem audiovisuellen Wahnsinn sowieso nicht mehr zurecht. Und da ist es gut, dass man hingeht. Das heißt ja nicht, dass man jeden Film mag und dass man das alles teilen muss, was wir machen, aber wenigstens führt es zu einer Diskussion und einer Auseinandersetzung, und ich glaube, das öffnet im wahrsten Sinn des Wortes manchen Leuten auch die Augen.

Pokatzky: Danke an Dieter Kosslick, den Direktor der Berlinale, und toi, toi, toi für die Tage zwischen dem 11. und 21. Februar!
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