"Da ist eine Riesendynamik"

Britta Bürger im Gespräch mit Steffen Stierle · 14.10.2011
Gegen die internationale Finanzpolitik, die die Schuldenlasten an die Bürger umverteilt, wollen Menschen in insgesamt 79 Ländern - darunter auch in Frankfurt und Berlin - demonstrieren. Steffen Stierle von der Organisation Attac ist der Ansicht, dass die deutsche Demokratie derzeit nicht funktioniert und die Protestbewegung auch hierzulande noch reichlich Zuwachs bekommen wird.
Britta Bürger: Nicht nur in den arabischen Ländern klagen die Menschen auf Straßen und Plätzen Demokratie ein, auch dort, wo sie auf dem Papier längst gilt, protestieren seit Monaten vor allem junge Leute gegen das massive Sparprogramm ihrer jeweiligen europäischen Regierungen. Die Spanier begannen am 15. Mai, Plätze im ganzen Land zu besetzen. Sie forderten unüberhörbar wirkliche Demokratie. Wenige Wochen später folgten die Griechen und besetzten ebenfalls die zentralen Plätze ihrer Städte. Und ein Zeichen der Solidarität soll morgen nun ein internationaler Aktionstag geben, am 15. Oktober, zu dem unter anderem auch die Organisation Attac aufruft.

Geplant sind Proteste in 662 Städten in insgesamt 79 Ländern, darunter auch in Berlin, wo Steffen Stierle mit dabei ist. Er ist Ökonom und Mitglied des bundesweiten Koordinierungskreises von Attac und jetzt bei uns am Telefon. Schönen guten Tag, Herr Stierle!

Steffen Stierle: Schönen guten Tag!

Bürger: Was ist Ihr persönlicher Antrieb, sich an dem morgigen Aktionstag zu beteiligen?

Stierle: Ich teile die Empörung der Bürgerinnen und Bürger, die morgen auf die Straße gehen weltweit, weil sie mit einer Krisenpolitik nicht einverstanden sind, die ganz offenkundig nicht ihren Interessen folgt, sondern die ganz offenkundig den Interessen von Finanzmarktakteuren folgt und nur dazu dient, die Kosten der Krise nach unten umzuverteilen, aber überhaupt kein Potenzial hat, die Krise zu lösen. Diese Politik ist fatal, und gegen diese Politik muss man auf die Straße gehen.

Bürger: Viele Leute, die zwar unzufrieden sind wie Sie, fühlen sich aber doch nicht konkret genug angesprochen, vielleicht sogar abgeschreckt von so allgemeinen Parolen jetzt wie Protest gegen den Finanzkapitalismus oder gegen den Neoliberalismus.

Stierle: Na ja, so allgemein ist das gar nicht. Wenn man so schaut, was die Leute bewegt, dann ist der Kern doch, dass sie sozusagen auf dem Papier in einer Demokratie leben und sozusagen erzählt bekommen, dass hier eine Politik gemacht wird, die ihren Interessen folgen muss. Wenn man aber sieht, dass die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger im Grunde nur noch danach entscheiden, wie die Märkte auf diese Entscheidung reagieren, wie die Ratingagenturen auf ihre Entscheidungen reagieren und das auch noch ganz offen so kommunizieren, das muss so sein, Stichworte wie marktkonforme Bundestagsabstimmung und so was, was da zurzeit fällt, dann glaube ich, ist das ein sehr konkretes Problem, weil die Leute dann merken, Moment, das ist ein Modell von Demokratie, das offensichtlich nicht funktioniert, das nicht wirklich demokratisch ist und von dem ich nicht repräsentiert bin. Und darüber sind die Leute wütend.

Bürger: Knüpfen Sie daran konkrete politische Forderungen, oder geht es jetzt dieser neuen Protestbewegung doch mehr um, ja, die Bewahrung oder Rückführung zu allgemeinen Werten wie zum Beispiel Gerechtigkeit?

Stierle: Nein, wir verbinden damit durchaus konkrete Forderungen, zumindest als Attac, das sind ja ganz verschiedene Gruppen in diesen Bewegungen dabei und ganz verschiedene Einzelpersonen, die natürlich nicht alle dieselbe Agenda haben. Die Bewegung ist auch dadurch gekennzeichnet durch ein Modell, dass man nicht sozusagen Forderungen aufstellt und sich unter diesen Forderungen dann vereint, sondern dass man sich erst zusammenfindet und dann über Forderungen diskutiert in einem demokratischen Prozess.

Aber was wir als Attac schon entwickelt haben, um gegen diese Krise vorzugehen, ist eine Position, dass wir sagen, man muss vor allem jene zur Kasse bitten, die von der Politik der deregulierten Finanzmärkte profitiert haben. Das sind Vermögende, das macht man zum Beispiel durch eine europaweite Vermögensabgabe, aber durch eine Finanztransaktionssteuer und so weiter, und man braucht natürlich eine strenge Regulierung der Finanzmärkte, die ein Verbot von Kreditausfallversicherungen, die ein Verbot von ungedeckten Leerverkäufen, ein Verbot von Hedgefonds und so weiter umfasst, sodass es Finanzmarktakteuren überhaupt nicht mehr möglich ist, gegen Staaten zu spekulieren und damit Krisen zu verursachen, wie wir sie im Moment in Europa erleben.

Bürger: Spüren Sie das Bedürfnis nach neuen Protestformen vor allem in Ihrer Generation, bei den 30-Jährigen, vielleicht auch noch Jüngeren?

Stierle: Das ist schwer zu sagen. Also ich bin jetzt dieser Tage gerade unterwegs mit einer Kollegin von Attac Spanien, wir haben hier ein paar Mobilisierungsveranstaltungen gemeinsam gemacht, und sie sagte, in Spanien, also wo diese Bewegung ja entstanden ist, ist das eine sehr gemischte Bewegung nach Altersgruppen, - also sowohl nach Altersgruppen als auch nach sozialen Gruppen, sondern es ist in der Tat eine große Bürgerbewegung. Das, was jetzt hier in Deutschland passiert, ist noch zu neu und zu undurchsichtig, als dass man wirklich einschätzen könnte, wer die Bevölkerungsgruppen sind, die das Ganze tragen und wie gemischt das ist.

Bürger: Am Aufbau einer neuen Protestbewegung in Deutschland beteiligt sich auch Attac-Mitglied Steffen Stierle, mit dem wir hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch sind. In den vergangenen Tagen sind einige ausführliche Artikel in den Zeitungen erschienen, in denen darüber nachgedacht wird, warum sich eben in Deutschland bislang so wenig Protest rührt, in den anderen Ländern hat die Krise längst alle Teile der Gesellschaft erreicht. Insofern, so wie Sie es erzählt haben, auch ja die Protestbewegung wird dort auch getragen von allen Teilen der Gesellschaft, in großem Maße ist in diesen Ländern nämlich auch die Mittelschicht betroffen.

Ist das der Unterschied zur Situation in Deutschland, dass der Leidensdruck der Mittelschicht hierzulande noch nicht groß genug ist und die sozial schlechter gestellten Menschen vielleicht schon zu resigniert sind, um auf die Straße zu gehen?

Stierle: Also zu wenig betroffen würde ich nicht sagen. Also ich glaube, dass wir in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren durchaus eine Politik hatten, die bis hinein in die Mittelschicht massive soziale Einschnitte bedeutet. Das Problem ist nur, die öffentliche Wahrnehmung ist ja lange Zeit so gewesen, dass man sagt, wir haben hier in Deutschland zehn Jahre lang massiven Sozialabbau betrieben, wir haben massive Lohnzurückhaltung betrieben und sind genau deswegen jetzt nicht in der Krise, sozusagen die Länder in Südeuropa wären deswegen in der Krise, weil sie in den letzten Jahren zu wenig gekürzt haben. Wir haben sozusagen unsere Hausaufgaben gemacht.

Und vor dem Hintergrund dieser Geschichte, die nicht haltbar ist natürlich, weil man sich in einer Abwärtsspirale nach unten befindet, in der Deutschland eine ganz zentrale Rolle spielt, in dieser Geschichte ist es natürlich ganz schwer, Leute dazu zu bewegen, auf die Straße zu gehen für anständige Sozialleistungen, für anständige Löhne, weil ihnen ja erzählt wird, wenn wir genau das machen, dann landen wir in einer Krise und dann wird alles noch viel schlimmer, also sozusagen diese Idee der Alternativlosigkeit von permanenter Kürzungspolitik – und das glauben die Leute dann so nicht mehr.

Bürger: Durch die große Beteiligung auch an vielen sozialen Netzwerken, die es mittlerweile gibt, entsteht ja der Eindruck, es gäbe ein riesiges Potenzial an protestbereiten Menschen, aber täuscht das vielleicht auch? Es ist doch was ganz anderes, mal kurz kernige Kommentare ins Netz zu stellen, als diese dann auch öffentlich zu verteidigen und selbst öffentlich Präsenz zu zeigen. Gibt's, Herr Stierle, vor allem eine virtuelle Protestbewegung, die man erst noch in den öffentlichen Raum bringen muss?

Stierle: Na ja, das ist ein Prozess, der gerade läuft, aber schauen Sie nach Spanien, schauen Sie nach Griechenland, schauen Sie in den arabischen Raum, schauen Sie an die Wall Street – das sind Bewegungen, die ganz stark sich über das Netz verbinden, die ganz stark sozusagen mobilisieren und austauschen und planen unter der Nutzung sozialer Netzwerke, unter der Nutzung von Twitter, Facebook und wie das alles heißt. Und das ist aber trotzdem eine Bewegung, die sozusagen auch im realen Leben, auch in der tatsächlichen Welt auf den echten Plätzen unheimlich präsent ist und die dann auftaucht nach den Vereinbarungen, die da getroffen sind.

Ob das in Deutschland genauso passiert, ob das auch ein Modell ist, das sozusagen zur politischen Kultur in Deutschland und anderen nord- und westeuropäischen Ländern passt, das ist, glaube ich, was, was sich jetzt zeigen muss, aber im Moment haben wir eine ganz ähnliche Richtung in diesen Ländern, und das stimmt mich optimistisch, dass wir auch in Deutschland bald eine starke Bewegung haben.

Bürger: Nachdem in Berlin monatelang Nacht für Nacht Autos angezündet wurden, sind es jetzt Brandsätze entlang von Bahnstrecken, die für Unruhe sorgen. Noch weiß man nichts Genaues über den Hintergrund der Täter, aber die Anklage und Forderungen in einzelnen linksextremen Bekennerschreiben richten sich auch in einem Rundumschlag gegen Sparprogramme, gegen Globalisierung und den Krieg auch in Afghanistan. Wie sehr schaden eigentlich solche Aktionen jetzt dem Versuch, eine neue Protestbewegung zu bilden?

Stierle: Ich glaube, das hängt wenig zusammen. Also es ist natürlich klar, dass eine neue Protestbewegung nur dann eine erfolgreiche Bewegung sein kann, wenn sie sich ganz klar zu einem gewaltfreien Widerstand bekennt. Anders ist man ganz schnell delegitimiert und anders wird man auch nicht vorankommen. Deswegen ist es natürlich ein Problem, wenn Akteure, die mit Gewalt arbeiten, in die Bewegung reingehen. Aber da sehe ich zu dem, was jetzt an Anschlägen passiert in letzter Zeit, wenig Zusammenhang zu der Bewegung, über die wir gerade sprechen.

Bürger: Was könnte sich im besten Fall aus diesem morgigen Aktionstag 15. Oktober entwickeln?

Stierle: Ein konstanter Protest, das ist die spannende Frage sozusagen. Also so einen Aktionstag, der ein starkes Zeichen setzt, um eine Politik, die man nicht will, zu delegimitieren, ist gut, das ist ein guter Anfang und das ist wichtig. Ich glaube aber, was entscheidend ist, ist, dass man eine mittelfristige Präsenz aus der Zivilgesellschaft, aus der Bevölkerung zeigt, so wie das in Spanien auf den Plätzen der Fall ist, so wie das in Griechenland vor dem Parlament der Fall ist, wo die Leute dann tatsächlich auch sich eine Infrastruktur aufbauen, wo die Leute anfangen zu zelten und tatsächlich auch Plätze über Wochen und Monate hinweg besetzt halten. Das ist natürlich ganz wichtig, denn wenn man politisch tatsächlich was bewegen will, wenn man tatsächlich dahin kommen will, dass die Politik, die herrschende Politik einen nicht mehr ignorieren kann, dann reicht es nicht, wenn man einmal da ist alle paar Monate, sondern dann muss das Ganze irgendwo mittelfristiger werden, konstanter werden. Und das ist die große Hoffnung.

Bürger: Aber man kann ja nicht sagen, dass in Spanien und Griechenland daraus wirklich was entstanden ist, es ist nichts wirklich Konkretes entstanden, was viele Menschen jetzt doppelt resigniert. Also welche Hoffnungen setzen Sie dann darauf? Es ist doch nicht mehr als die Bestätigung, dass man mit seinem Unbehagen nicht allein ist.

Stierle: Natürlich ist da eine ganze Menge draus entstanden. Also Sie müssen sehen, in Spanien kam's ja am 15. Mai zu den ersten Demonstrationen, und die sind dann von Tag zu Tag im Grunde größer geworden. Die Leute sind auf den Plätzen geblieben, die Leute haben Bürgerkomitees gegründet in allen Städten, also in über 700 spanischen Städten gibt es solche Komitees, die in verschiedenen Arbeitsgruppen arbeiten, die verschiedene Alternativen entwickeln, die mittlerweile eine ganz klare Agenda entwickelt haben, was sozusagen die Bevölkerung tatsächlich fordert, also ganz klar herausgefunden haben, welche politischen Maßnahmen sind die, die eigentlich nur demokratisch legitimiert sind. Die Leute haben sich in so einer Weise organisiert, dass sie Bescheid kriegen, wenn im Umkreis von 20 Kilometern von dem, wo sie gerade sind, eine Zwangsräumung stattfindet, weil ein Eigentümer von einer Wohnung enteignet werden soll von der Bank, weil er durch die Krise nicht mehr zahlen kann, dann gehen die Leute dorthin und blockieren das, diese Räumung, friedlich und zögern die so weiter hinaus. Das ist ein enormes Erfolgsmodell, wie sich in Spanien gerade die Zivilgesellschaft organisiert, und da ist eine Riesendynamik drin, das darf man nicht unterschätzen.

Bürger: Steffen Stierle vom globalisierungskritischen Bündnis Attac über den morgigen Aktionstag 15. Oktober. Ich danke Ihnen fürs Gespräch!

Stierle: Herzlichen Dank!


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