"Da ist bewusst ein Missverständnis gesät worden"

Christian Führer im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 08.10.2012
Der ehemalige Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, Christian Führer, hat erneut gefordert, über Alternativen zum kapitalistischen Wirtschafts- und Finanzsystem nachzudenken. Die jetzigen Strukturen seien nicht zukunftsfähig, betonte Führer. Gegen Vorwürfe, er sei ein "Wendehals", verwahrte er sich.
Korbinian Frenzel: Wendehals. Erinnern Sie sich? Das war das Etikett für all die, die in den letzten Tagen der DDR noch ganz schnell aufgesprungen sind auf den Zug der Freiheit und Demokratie. Wendehals, das war nicht nett gemeint, und das war sicher auch nicht nett gemeint, als die "Bild" -Zeitung diesen Titel vor ein paar Tagen herausholte und dem Pastor Christian Führer verlieh, dem mittlerweile pensionierten Pastor der Nikolaikirche in Leipzig, die Kirche, die wie keine andere stand und steht für die Widerstände gegen die Verhältnisse in der DDR. Wendehals, diesen Titel gab es von "Bild" jetzt deshalb, weil er in einer Predigt dazu aufrief, sich für die Abschaffung des kapitalistischen Systems einzusetzen. Wir finden das gar nicht so schlimm, sondern eher interessant, und deshalb freue ich mich, dass Christian Führer Zeit hat, mit uns darüber zu sprechen. Hallo, Herr Führer!

Christian Führer: Ja, guten Tag!

Frenzel: Einer der Totengräber des real existierenden Sozialismus, der jetzt den Kapitalismus angreift - sind Sie ein Wendehals?

Führer: Na, dieser Titel ist so weit von der Wirklichkeit entfernt, dass ich mich schon da gar nicht beunruhigen muss. Die entsprechende Passage in einer Zeitung hat auch mir nur Sympathien eingebracht. Da ist bewusst ein Missverständnis gesät worden, als würde ich mit dieser Bemerkung, wir brauchen ein neues Wirtschafts- und Finanzsystem, weil das jetzige nicht zukunftsfähig ist, als würde ich da die sozialistische Wirtschaftsform wieder zurückwünschen. Also, das ist ja nun das Letzte, ein System, das sich selbst überholt hat und ad absurdum geführt hat, wieder zurück zu wünschen. Ich gleich gar nicht.

Frenzel: Dann lassen Sie uns das mal aufklären, Herr Führer. Sie sprechen von Teil zwei der friedlichen Revolution. Ich habe in Ihrer Predigt nachgeschaut - was soll denn dieser zweite Teil sein, was muss er beinhalten?

Führer: Der ganze Zusammenhang ist Mut zur Alternative, von der Bergpredigt her. Und diese große Alternative zur Gewalt haben wir ja in der gewaltlosen, friedlichen Revolution wirklich hautnah alle miterlebt. Diese Alternative, die brauchen wir in vielen Belangen des Lebens. Und eben auch ein neues Wirtschafts- und Finanzsystem, das übrigens von vielen Menschen gewünscht wird. Und ich habe also hier einfach gesagt, Kirche ist gefragt, sich angesichts nationaler und globaler Ausbeuter- und Unrechtsstrukturen einzumischen, weil das Banken- und Finanzkrisenmanagement zeigt oder die Krise selbst zeigt, dass kosmetische Beschönigungen nichts nutzen und das System nicht die Probleme beseitigen kann, die es selbst hervorbringt.

Frenzel: Ich greife das gern mal auf: "Mut zur Alternative", so lautet ja auch das Motto des diesjährigen Friedensgebetes, das es morgen geben wird in Leipzig in Erinnerung an die große Demonstration 1989, die ja von der Nikolaikirche, von Ihrer Kirche ausging. Wenn wir mal schauen auf diesen Beginn der Revolution, auf den ersten Teil, auf diejenigen, die sich ganz am Anfang mutig vorgewagt haben. Da ging es ja vielen nicht unbedingt darum, den Sozialismus an sich abzuschaffen, sondern ihn zu einem menschlichen Sozialismus zu machen. Wenn ich jetzt höre bei Ihnen, Mut zur Alternative, geht das dann auch in die Richtung eines demokratischen Sozialismus, zum Beispiel?

Führer: Ich würde das jetzt nicht so benennen, sondern "Mut zur Alternative" heißt, das Bestehende als nicht zureichend zu erkennen beziehungsweise als einen Zustand, wie es in der DDR war, der unerträglich war. Und wir haben ja klein angefangen mit den Friedensgebeten, der Friedensdekade, bei uns in der Nikolaikirche vor 31 Jahren, 1981. Und dieses kleine Senfkorn, Friedensgebete, wo es um Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung ging - das hat immer mehr Menschen angezogen, die in diesem System, wo man keine eigene Meinung öffentlich äußern durfte, wo das eigene Denken nicht gefragt und nicht erwünscht war, wo die Arroganz des Staates im Eingriff in die persönlichen Rechte der Menschen allgegenwärtig war, da wollten die Leute einfach wirklich die Alternative. Und so wuchs unter dem Dach der Nikolaikirche eine kritische Masse heran all derer, die noch nicht eingeschlafen waren, die noch was wollten, die sich einbringen wollten. Und dieses Sich-Einbringen-Wollen, das war auch noch gar nicht so klar, was das jetzt am Ende sein sollte. Denn dass eine friedliche Revolution stattfindet, die dieses Diktatursystem abschafft, das konnte sich ja keiner vorstellen. Das war ja ebenfalls eine Alternative, die für unmöglich gehalten wurde, aber man wollte einfach ändern, und man wollte sich einbringen. Und genau das haben sie in den Kirchen gesucht und gefunden.

Frenzel: Ich bleibe mal bei den Begriffen Alternative und Alternativlosigkeit. Also das Gegenteil ist ja ausgerechnet die Regierungsformel der Kanzlerin, die überhaupt erst möglich wurde durch die friedliche Revolution von 1989, von Angela Merkel nämlich. Enttäuscht Sie das manchmal?

Führer: Ja, der Begriff ist 2010 ja zum Unwort des Jahres erklärt worden. Und die Bundeskanzlerin hat ja die Größe gehabt, das auch wieder zurückzunehmen, nämlich in dem, was sie dann getan hat, zum Beispiel in dem Ausstieg aus der Atomenergie, der vorher nicht für möglich gehalten wurde. Die Atomenergie als alternativlos hingestellt wurde, und ich finde das eine Größe, dass eine Politikerin das ganz und gar zurücknimmt und dann tatsächlich das geschafft hat, was ich für die Nachkriegsgeschichte Deutschlands für einen ganz großen Schritt halte, den Ausstieg aus der Atomenergie.

Frenzel: Pastor Führer, denken wir uns mal kurz zurück in die 80er-Jahre. Sie hätten niemals mit diesen klaren Worten der Kritik ein Interview sagen wir mal im DDR-Rundfunk führen können. Hier bei uns kommen Sie zu Wort. Das freut mich sehr, aber ich frage mich: Die Wirkungsmacht der Worte, ist die dieselbe, selbst, wenn man heute ein so großes Forum hat, wenn man aber gleichzeitig aber jetzt in einem - ja, sagen wir mal, System - damit zu tun hat, dass alles gesagt werden kann und damit auch alles irgendwie ein bisschen verpufft?

Führer: Sie haben recht, das sind erschwerte Bedingungen. Die Pluralität, die großartigen Dinge der Demokratie, Meinungsfreiheit, dass man alles äußern kann. Aber das bedeutet auch, dass die Menschen nicht mehr so genau zuhören. Dass sozusagen es nicht mehr so in die Tiefe geht. In der DDR war das einfach verboten. Mit Kirche wurde überhaupt kein Interview geführt. Gleich gar nicht, dass Sie irgendwie öffentlich zu Wort kommen durften in staatlichen Medien. Und in der DDR war durch diesen Zwang der Weltanschauungsdiktatur das Denken geschärft. Man las das, was nicht zu lesen war, man hörte, das zwischen den Zeilen Gedachte. Man war aufmerksam. Und in den Friedensgebeten haben wir das natürlich auch weidlich genutzt, diese Zwischentöne einmal ganz deutlich auszusprechen. Also, diese Sensibilität, die wünschte ich mir schon wieder, dass wir genauer auf das Wort hören, dass wir mehr in die Tiefe gehen und nicht so an der Oberfläche hängen bleiben, von jedem und allem mal ein bisschen gehört und so weiter, aber nicht weiter drüber nachgedacht, weil eine Fülle von elektronischen Massen auf die Menschen niederprasseln, sodass man wirklich es schwer hat, sich zu orientieren. Das war in der DDR, da gebe ich Ihnen recht, leichter.

Frenzel: Christian Führer, der ehemalige Pastor der Leipziger Nikolaikirche. Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.

Führer: Bitte sehr!

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