"Da bleibt auch immer etwas hängen"

Lutz Hachmeister im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 10.06.2009
Seit sich herausstellte, dass der West-Berliner Polizist Karl-Heinz Kurras ein Stasi-Spitzel war, behaupten verschiedene Medien, dass die Geschichte von 1968 umgedeutet werden müsse. Nach Einschätzung des Medienexperten Lutz Hachmeister könnte ein solcher Versuch sogar erfolgreich sein.
Liane von Billerbeck: Da verlangt der Springer-Chef Mathias Döpfner von einigen Achtundsechzigern, die vor 40 Jahren die Kampagne "Enteignet Springer" initiiert hatten, sich bei seinem Verlag zu entschuldigen. Da müsse - seitdem wir wissen, dass der Mörder von Benno Ohnesorg nicht nur Westberliner Polizist, sondern auch Stasispitzel war - die Geschichte der Bundesrepublik, zumindest aber die von 68, umgeschrieben werden.

Geschichte wird gemacht - nicht nur in autoritären Systemen, sondern auch in demokratischen Gesellschaften, und eine besondere Rolle - das erleben wir gerade an diesem Fall Kurras - spielen dabei die Medien. Damit befasst sich auch eine Tagung in Berlin, die heute beginnt: "kultur.macht.geschichte - geschichte.macht.kultur", veranstaltet unter anderem von der kulturpolitischen Gesellschaft und der Bundeszentrale für politische Bildung.

Lutz Hachmeister ist Medienexperte und Autor von Filmen über historische Themen, er hält dort einen Vortrag über den Kampf um die Deutungshoheit über Geschichte. Herr Hachmeister, schönen guten Tag!

Lutz Hachmeister: Guten Tag!

Von Billerbeck: Der Polizist Karl-Heinz Kurras hat Benno Ohnesorg erschossen, und er war Stasispitzel. Darüber muss man berichten. Was aber ist an den Debatten, die da jetzt gerade in den Feuilletons geführt werden, anders?

Hachmeister: Anders als was? Ich finde, das sind sehr nachgeholte Debatten. Da muss etwas noch sehr schmerzen, was doch viele Bürgerinnen und Bürger gar nicht mehr interessiert oder was sie zumindest verblüfft, dass solche Debatten noch mit solcher Heftigkeit 40 Jahre später geführt werden können. Und da sieht man, dass die Geschichte manches Medienhauses, manches Verlagshauses mit der Inszenierung, mit dem Diskurs an sich doch mehr zu tun hat, als man auf den ersten Blick erkennen mag.

Von Billerbeck: Das heißt, das ist ein Thema, das am Publikum quasi vorbeigeht, wo alte Grabenkämpfe von 68 noch mal gekämpft werden?

Hachmeister: Zum großen Teil. Die reine Nachricht, dass Karl-Heinz Kurras offensichtlich auch Agent der Staatssicherheit war, der DDR-Staatssicherheit, ist natürlich verblüffend und auch meldenswert, aber alles, was sich darum herum spinnt, dass die Geschichte eben noch mal wieder revidiert werden muss - das ist ja eine Art von Revisionismus, also medienhistorischer Revisionismus in dem Fall –, das ist in der Heftigkeit dann doch … hat auch eine komische Seite.

Von Billerbeck: Hat Sie das überrascht, dass es da so stark wurde, dass man diese Kämpfe noch mal so stark geführt hat?

Hachmeister: Springer leidet schon sehr unter seiner Geschichte in den 1960er-Jahren, das merkt man. Obwohl eigentlich kaum noch Handelnde aus der Zeit in dem Verlagshaus sind - wahrscheinlich überhaupt keine mehr - und die Führungsfiguren alle tot sind, ist es doch so, dass es sogar vermutete Querverbindungen ins Geschäftliche hinein gibt. Die versuchte Übernahme von ProSiebenSat.1 durch Springer ist – und da hat der Konzern wahrscheinlich noch nicht einmal Unrecht mit der Selbsteinschätzung – auch an der Geschichte dieses Hauses gescheitert.

Das heißt, man traut diesem Konzern immer noch eine gehörige Meinungsmacht zu, die er wahrscheinlich gar nicht mehr hat. Man beäugt die "Bild"-Zeitung immer noch – sicherlich zu Recht – skeptisch, und daraus werden Rückschlüsse gezogen auf die Geschichte des Hauses, also – man kämpft auch um das eigene Image und damit auch um Vorteilsgewinne im geschäftlichen Bereich. So weit reicht das.

Von Billerbeck: Wie erfolgreich ist denn nun dieser Versuch, die Geschichte der Bundesrepublik oder zumindest die Geschichte von 68 umzuschreiben?

Hachmeister: Es lohnt sich schon. Da bleibt auch immer etwas hängen. Neuere Generationen sind für revidierte Geschichtsschreibung stärker auch aufgeschlossen als diejenigen, die dabei waren und ihren Standpunkt stärker verhärtet haben. Dass ein alter Kombattant komplett zum Renegaten wird und seinen Standpunkt komplett ändert, ist eher selten.

Die meisten bleiben doch bei ihrer Lebensgeschichte, mildern das etwas ab, wenn sie älter werden, aber sie drehen sich nicht vollkommen. Aber für Leute, für die diese Geschichte im wahren Sinne des Wortes ein unbeschriebenes Blatt ist, sind sie schon für Reinterpretationen, Verblüffungen, neue Interventionen sicherlich zu haben.

Von Billerbeck: Nun passiert das ja nicht zum ersten Mal, so ein Versuch, Geschichte umzuschreiben. Welche Beispiele erinnern Sie da noch, wo das schon mal erfolgreich oder weniger erfolgreich versucht wurde?

Hachmeister: Ich glaube, das durchzieht die Geschichte der Geschichtsschreibung. Es gibt die berühmten Stalinistischen Versuche, Personen aus Fotos herauszuretuschieren, sodass sie …

Von Billerbeck: Leo Trotzki.

Hachmeister: … ja, nicht an dem Platz waren, wo sie wirklich waren, jedenfalls auf der Fotografie. Geschichte wird in dem Sinne auch wirklich immer wieder neu geschrieben, denken Sie an die Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, die sich vollkommen, gegenüber der in der Weimarer Republik, verschärft, verändert hat unter der Doktrin eines Staates. Totalitäre Staaten schaffen per se ihre eigene Geschichtsschreibung, denken Sie jetzt an China …

Von Billerbeck: Nun haben wir aber hier einen demokratischen Staat.

Hachmeister: … mit dem Tian’anmen-Platz, was sozusagen als Geschichte offiziell gar nicht existieren darf, diese Ereignisse. Und auch im demokratischen Staat versuchen nicht nur die Historiker, sondern auch eben Medienhäuser, Publizisten ihre Standpunkte, die sehr stark mit Eigeninteressen verknüpft sind, nolens volens immer wieder durchzusetzen.

Der Springer-Verlag versucht es ja jetzt nicht zum ersten Mal, sondern denken Sie an die Fotos von Jürgen Trittin als Straßenkämpfer mit der, ich glaube, es war eine Drahtschere in der Hand angeblich. Auch da hat man natürlich versucht, die Grünen viel stärker mit dem gewalttätigen Teil der 68er-Bewegung in Verbindung zu bringen, als man es gemacht hätte, wenn man nicht selber Teil der Geschichte gewesen wäre.

Von Billerbeck: Wenn es um Zeitgeschichte geht, dann sind ja an der Rezeption immer auch Zeitzeugen beteiligt, die zum Teil Historiker sind, aber zum Teil eben auch selbst gelebt haben und agiert haben. Ilko-Sascha Kowalczuk, der Historiker, der hat gerade ein Buch geschrieben über das Jahr 89 in der DDR, "Endspiel", und hat sich darin ausdrücklich zu seiner Zeitzeugenschaft bekannt. Müssten das nicht alle Zeithistoriker oder auch Journalisten tun? Müsste man da eigentlich unter den Artikel immer darunter schreiben, der war dann und dann das und das?

Hachmeister: Das ist eine hehre Forderung. Jeder, der reflektiert, über eine Periode schreibt und nachdenkt, an der er selber beteiligt war, wird das auch tun. Man kann sich nicht völlig aus den Ereignissen ausblenden, bei denen man selber eine Rolle gespielt hat. Anders ist es natürlich, wenn ich zum Beispiel über den NS-Staat schreibe, dann ist es eine völlig andere Perspektive. Man befragt dann Zeitzeugen und benutzt die üblichen Methoden der Quellenkritik, indem man checkt und gegencheckt und die Fakten noch einmal überprüft.

Von Billerbeck: Wieso wird eigentlich jetzt in dieser aktuellen Debatte um die Stasispitzelei von Karl-Heinz Kurras so wenig in den Vordergrund gestellt und so wenig darüber diskutiert, dass Kurras ja nicht zur Verantwortung gezogen wurde, sondern von seinen Kameraden und Vorgesetzten in der Polizei gedeckt und von der Justiz verschont wurde?

Hachmeister: Man muss sagen, dass der Journalismus in Deutschland generell von dem einzigen dominierenden linksliberalen Kartell, um es mal so zu nennen - der "Stern", der "Spiegel", die "Frankfurter Rundschau", die früher eine viel stärkere Rolle gespielt hat als heute - mehr in die, ich sage mal, in die konservative Mitte gerückt ist. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ist zum einen liberaler geworden, spielt aber bei jüngeren Leuten eine wesentlich größere Rolle, als sie es in den 1950er- und 60er-Jahren getan hat. Der Springer-Verlag hat sich sicherlich auch zivilisiert, hat aber eben seine eigene Geschichte, und das sind aber die Blätter, die heute maßgeblich den Ton angeben. Die "Süddeutsche Zeitung" versucht ja noch etwas, dagegen zu halten, aber die Stimmen, sage ich mal, aus dem linksliberalen bis linken Raum sind deutlich schwächer als die aus der konservativen, bürgerlichen Wohlstandsmitte. Und das prägt heute die Publizistik sehr, sehr stark.

Von Billerbeck: Wie erklären Sie sich das?

Hachmeister: Zum einen durch den Generationswandel, die Linke ist ohnehin - abgesehen von der Partei, die sich so nennt - sehr geschwächt. Man hat das ja auch bei den jüngsten Wahlen gesehen, europaweit. Wir haben einfach ein Wohlstandsniveau erreicht, in dem es sehr stark um die Verteidigung dieses Wohlstandes geht und nicht mehr so sehr um vorwärtsweisende Ideen, um Wagemut, um Gesellschaftsveränderung, sondern das hat sich sehr stark in so eine Angststarre fast entwickelt.

Und das beeinflusst auch die Sicht auf Geschichte, auf die Geschichte der Bundesrepublik. Die Geschichte der Bundesrepublik wird heute fast ausschließlich als komplette Erfolgsgeschichte definiert, auch von der herrschenden Zeitgeschichtsschreibung. Früher, leise oder heftigere kritische Anmerkungen zur Adenauerzeit, die ja auch durchaus durch Bespitzelung innenpolitischer Gegner auffiel, also die damalige Regierungspartei – das ist komplett verschwunden. Das Geschichtsbild der Bundesrepublik sieht eigentlich so aus, dass wir in einem vollständig geglückten Staat leben seit 1945 und dass die Protestbewegungen vielleicht notwendig waren, aber a), nicht viel erreicht haben, und b) eher doch sehr kritisch zu sehen sind in ihren Intentionen.

Von Billerbeck: Na ja, die Bundesrepublik ist ja auch der Sieger der Geschichte, die DDR ist ja untergegangen …

Hachmeister: Das kann man so sagen.

Von Billerbeck: … und das ganze System gleich mit.

Hachmeister: Sicherlich. Wir wissen ja alle, wir kennen ja alle die Debatten um die Ostdeutschen, die verzweifelt um ihre Erinnerungen, ihre Identität, um ihren Platz in der Geschichte kämpfen, und einstweilen sind sie da sehr unterlegen, keine Frage - zumal auch keine Ostmedien in dem Sinne mehr übriggeblieben sind außer dem "Neuen Deutschland" und einigen kleinen Restbeständen. Die Zeitgeschichte schreiben hier die alten Westmedien.

Von Billerbeck: … sagt der Medienexperte Lutz Hachmeister. "Geschichte wird gemacht" war unser Thema und ist auch das Thema einer Konferenz, die von heute an in Berlin stattfindet, "Kultur macht Geschichte" ihr Titel. Danke fürs Kommen!

Hachmeister: Bitte sehr!