Cyberwar

Von Michael Stürmer · 24.06.2007
Die virtuelle Welt ist auch nicht besser als die reale. Im Gegenteil, in der realen Welt ist meist noch einigermaßen erkennbar, von welcher Seite das Böse kommt, in der anonymen Welt des Internet nicht. Konten argloser Besitzer werden ausgeräumt, Kinderpornographie geistert durch das Internet, und einige arabische Websites wetteifern in Aufrufen zu Gewalt und Darstellung realer Folter und zeremonieller Hinrichtung. Man kann sogar Krieg führen über das Internet – und nicht nur im Spaß.
Schöne neue Welt - World Wide Web und dot.com: Niemand kann sich mehr jene vergangene Welt mehr vorstellen, als die elektronischen Heinzelmännchen noch nicht existierten oder aber nur gelehrten Physikern und Militärs zur Verfügung standen. Das Internet wurde erfunden, um im nuklearen Ernstfall die amerikanischen Kommandozentralen zu verbinden. Sein militärischer Ursprung prägt seine Doppeldeutigkeit.

Kann man sich davon isolieren? Selbst Leute, die noch immer an Bleistift und Papier glauben, sind doch längst, mehr als sie ahnen, von fortgeschrittener, weltweit vernetzter Informationstechnologie abhängig, ob im Reisebüro oder in der Bank, ob im Supermarkt oder bei der Wasserversorgung.

Seit mehr als 20 Jahren geht die Welt durch eine elektronische Revolution in Cyberspace. In Europa ist das kleine Estland an der Ostsee am weitesten fortgeschritten im elektronischen Alltag: Faszinierend, aber auch, wie die Esten kürzlich lernen mussten, lebensgefährlich. Man erinnert sich: In der Innenstadt von Tallinn befand sich bis vor kurzem ein Rotarmist aus Bronze in Heldenpose, noch aus jenen Zeiten, da Estland Teil der Sowjetunion sein musste. Aus russischer Sicht erinnerte der stumme Soldat an die Opfer der Roten Armee für die Befreiung Osteuropas. Aus estnischer Sicht erinnerte der Soldat an den Hitler-Stalin-Pakt von 1939, der für Estland das Todesurteil bedeutete, und an die Unterdrückung durch Stalin, NKWD und die Rote Armee. Als die Regierung verfügte, das Standbild auf einen Soldatenfriedhof am Rande der Hauptstadt zu verbannen, da ging die Hölle los. In Moskau demonstrierte die Jugendorganisation der Kreml-Partei vor der estnischen Botschaft und wollte Putz machen, in Estland meldeten die Computer von Behörden, Banken, Militär und Krankenhäusern einschließlich deren Notdienste "denial of service" – das heißt, sie wurden von außen überschwemmt durch Hunderttausende von elektronischen Anfragen, und mussten abschalten. Die Esten identifizierten großenteils russische Absender, aber nicht nur. Die russische Regierung erklärte, sie habe mit der ganzen Sache nichts zu tun.

Cyberspace, cybercrime, cyberwar – das Spielfeld überdrehter Hacker lässt sich auch für sinistre Zwecke nutzen. Amerikaner und Taiwan-Chinesen beobachteten zum Beispiel, dass über die Jahre immer wieder Unternehmen und staatliche Dienststellen auf der Insel Taiwan vom Festland aus angegriffen und gelähmt wurden. Noch ist es nicht dazu gekommen, dass Kommandozentralen falsch programmiert wurden und Katastrophen eintraten. Aber unmöglich ist auch das nicht. Die Israelis, selbst in Sachen Cyberspace große Meister, haben schon 1996 begonnen, Szenarien eines gegen sie gerichteten Angriffs aus Cyberspace durchzuspielen, und was sie lernten, brachte ihnen das Fürchten bei, und Gegenwehr. In Deutschland ist unter den Ministern Schily und Schäuble einiges für die Abwehr geschehen. Aber im heißen Test ist das bisher nicht erprobt.

Informationstechnologie in jeder Form dient der Rationalisierung des Alltags, aber auch seiner Verwirrung und gegebenenfalls seiner Zerstörung. Der homo faber erkennt sich wieder als Zauberlehrling. Computerfehler auf einem deutschen Großflughafen – dann hört es mit dem Fliegen im deutschen Luftraum auf. Das geschieht einfach so, durch technische Überlastung, Bedienungsfehler, Zufall. Was geschieht, wenn ein Angreifer es einmal ernst meint, das möchte man sich nicht ausmalen.

Dabei sind es nicht die Maschinen, die die Regeln missachten. Sie sind nur Instrument, zum Guten oder zum Bösen. Gefährlich ist, dass die Übergänge zwischen Cyberspace, Cybercrime und Cyberwar fließend sind, und damit auch die Versuchungen und die Grenzen zwischen Spiel und Ernst und, im Extremfall, zwischen Krieg und Frieden. Der Großrechner oder der kleine Laptop sind moralisch wertfrei, nicht wertfrei ist der Geist, der sie steuert, und die Hand, welche die Tastatur bedient. Die moralischen Fähigkeiten der Menschen bleiben, wie seit Anbeginn der Schöpfung, hinter den technischen Fähigkeiten zurück.

Was Taiwan erlebt hat, oder Estland, ist wahrscheinlich nur Anfang. Im asymmetrischen Krieg gegen die Metropolen ist der Computer kaum zu schlagen. Willkommen in der Schönen Neuen Welt.

Der 1938 in Kassel geborene Michael Stürmer studierte in London, Berlin und Marburg, wo er 1965 promovierte. Nach seiner Habilitation wurde er 1973 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Sozial- und Verfassungsgeschichte; außerdem lehrte er u.a. an der Harvard University, in Princeton und der Pariser Sorbonne. 1984 wurde Stürmer in den Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung berufen und zwei Jahre später zum Vorsitzenden des Forschungsbeirates des Center for European Studies in Brüssel. Zehn Jahre lang war er überdies Direktor der StiftungWissenschaft und Politik. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: "Das ruhelose Reich", "Dissonanzen des Fortschritts", "Bismarck - die Grenzen der Politik" und zuletzt "Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte". Im sogenannten "Historikerstreit" entwickelte Stürmer die von Habermas und Broszat bestrittene These von der Identität stiftenden Funktion der Geschichte. Stürmer, lange Kolumnist für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", schreibt jetzt für die "Welt" und die "Welt am Sonntag".
Michael Stürmer
Michael Stürmer© Deutschlandradio / Bettina Straub