Covid-19 in Kirgisistan

Coronawelle überrollt das Land

23:53 Minuten
Patienten in Betten in einem Restaurant in Kirgisistan, das zum Hospital umgewandelt wurde.
Dieses Restaurant in Bishkek - der kirgisischen Hauptstadt - wurde in ein Krankenhaus für Corona-Patienten umgewandelt. © picture alliance / AP / Vladimir Voronin
Von Birgit Wetzel · 07.10.2020
Audio herunterladen
Wegen Corona ist die Gesundheitsversorgung in Kirgisistan zusammengebrochen. Schutzkleidung, Medikamente und Sauerstoffgeräte fehlen. Viele Ärzte sind gestorben. Die Regierung hat um die Mithilfe Freiwilliger gebeten.
Nursultan erreiche ich in Bischkek, Kirgisistan. Das Coronavirus hat dort mit einer zweiten Welle das Land überrollt. Es sind Bilder, die mich über die sozialen Medien erreichen, geschickt von Menschen, die ich kenne: ehemalige Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde aus der kirgisischen Hauptstadt Bischkek und deren Umgebung.
So wie dieses: eine Turnhalle, Bett an Bett, ein Massenlager für Kranke, rechts und links die Zuschauertribünen. Alle Betten sind belegt: Junge und Alte, Frauen und Männer, bekleidet, nur mit einer Wolldecke zugedeckt und mit Mundschutz versorgt.
Seit sieben Monaten verfolge ich die Situation in Kirgisistan, das Auf und Ab der Corona-Pandemie über WhatsApp, Facebook und Youtube. Ich kann nicht immer überprüfen, woher die Bilder und Filme kommen. Aber diejenigen, die ich kenne – und das sind nicht wenige -, bestätigen mir die Ausnahmesituation im Land.

Hilferufe über soziale Netzwerke

Sie schicken nicht nur Hilferufe und Alltagsbeschreibungen, sondern stellen mir auch sehr praktische Fragen. Aigul, eine Bekannte, zum Beispiel. Sie hat die ersten Anzeichen einer Erkrankung, fühlt sich unsicher, und fragt per WhatsApp: "Ich weiß nicht. Vielleicht gehe ich morgen hin und lasse mich röntgen. Ich habe auch Angst, dort sind ja sehr viele Menschen. Soll ich das wagen?"
Sie weiß, wie viele Kranke in den Hallen in Bischkek liegen. Andere liegen in Osch, in Naryn, in Tokmok und Issyk-Kul. Sie liegen in Kindergärten und Schulen, Ferienzentren und Sozialstationen. Die Krankenhäuser sind längst überfüllt.
Blick in ein zum Hospital umfunktioniertes Restaurant in Bishkek.
Die zweite Corona-Welle ließ das Gesundheitswesen in Kirgisistan zusammenbrechen: Krankenlager in einem Restaurant in Bishkek.© picture alliance / AP / Vladimir Voronin
Auch Dschamila, die Freundin einer Freundin, beschreibt auf WhatsApp ihre Situation: "Viele Leute sind krank. Hier, wo wir wohnen, gibt es eine medizinische Versorgungsstation. Wir gehen dort zu einem Allgemeinmediziner. Da sind jeden Tag zwischen 50 und 100 Menschen. Die meisten haben Grippe, eine schwere Grippe. Dort kriegen sie eine Infusion, Medikamente und Spritzen. Aber wir haben hier noch nicht mal ein Röntgengerät. Unsere Verwandten sind gestern ins Bezirkskrankenhaus nach Talas gefahren. Sie haben sich dort röntgen lassen, und ich habe sie gefragt, wie dort die Lage ist. Sie haben gesagt, dass dort die Menschen Schlange stehen, eine unglaubliche Menge von Menschen. Alle sind krank. Sie weinen."

Lockdown schien zu Beginn zu wirken

Noch bis zum Ende des Lockdowns Ende Mai schien das Virus besiegt. Frühzeitig hatte die Regierung die Kirgisen nach Hause in Quarantäne geschickt. Schulen waren geschlossen, ebenso Läden und Büros. Homeoffice war auch dort die Lösung, obwohl das in der kirgisischen Kultur unbekannt ist.
Wohnungen aus der Sowjetzeit wurden nicht für lange Aufenthalte zu Hause gebaut, schon gar nicht für individuelle Bedürfnisse. Die Menschen sollten am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, an den staatlich organisieren Sportveranstaltungen und Feiern. Man traf sich im öffentlichen Raum, im Sommer in den vielen Parks und Plätzen. Entsprechend klein wurden die Wohnungen gebaut.
Gleichzeitig leben viele Familien auf diesem engen Raum mit mehreren Generationen zusammen. Das aber verursachte zu Coronazeiten, über Wochen, neue Probleme. Streit in den Familien und sogar Gewalt, berichtet eine Bekannte. Doch selbst das meisterten fast alle Familien. Jedenfalls während der ersten Welle. Man hielt Abstand, so gut es ging. Die Zahl der Infizierten blieb gering.
"Der Basar war die ganze Zeit geöffnet", erzählt mir Nursultan, 31 Jahre alt, ein guter Freund und Kollege aus Bischkek, am Telefon. Fast täglich war er – auch während des Lockdowns – für seine Familie zum Einkaufen auf dem Basar.
Er spricht mehrere Fremdsprachen, hat studiert und arbeitet bei einer internationalen Wohltätigkeitsorganisation. Daher ist er informiert über das Geschehen in und außerhalb von Kirgisistan. "Ich habe mich mit den Verkäufern unterhalten und die haben das bestätigt. Ich habe mich gewundert, dass sehr viele Menschen, wohl die Hälfte, keine Masken trugen. Da gibt es viele verantwortungslose Menschen. Sie haben sogar gedacht, dass es vielleicht gar keinen Virus und keine Pandemie gibt, und sie haben an Verschwörungstheorien geglaubt, dass das Ganze von Amerika gemacht ist, oder China, und dass es vielleicht sogar gar keine Krankheit wie Covid gibt."

Mitte Juli kippte die Stimmung

Mitte Juli dann die Wende ins Negative: Das kleine Kirgisistan mit seinen sechs Millionen Einwohnern hatte täglich über tausend Neuerkrankte, in Relation zur Bevölkerung die meisten Neuinfektionen weltweit. Und die Stimmung kippte.
Auf Facebook finde ich Fotos von einem Freund, 29 Jahre alt. Er war infiziert, hatte aber Glück, bekam Hilfe und Sauerstoff. An seine Freunde appelliert er auf Facebook: "Leute, Freunde, passt auf! Ich wollte arbeiten gehen, aber das Virus hat seinen eigenen Willen. Es ist stark, es ist grausam. Es kennt keine Grenzen! Passt gut auf euch auf, und auf eure Familie, eure Freunde, auf alle, die euch lieb sind! Hört auf die Warnungen!"
Auf Youtube sehe ich Videos mit Helfern im Krankenhaus ohne Schutzkleidung und Kranke, die nicht genügend Sauerstoff bekommen. Elementare Medikamente fehlen. Auf Fotos aus Bischkek gibt es lange Schlangen, die sich sogar nachts vor den Apotheken bilden. Die Menschen warten und hoffen auf neue Lieferungen von Medikamenten. Alle wissen, dass es weltweit noch keine wirksame Medizin gegen das Virus gibt. Aber es gibt Mittel, die zum Überleben helfen, Sauerstoff zum Beispiel. Wer kaum atmen kann, weil das Virus die Lunge angreift, könnte mit zusätzlichem Sauerstoff versorgt werden.
"Hier bei uns im Krankenhaus gibt es keinen Sauerstoff. Vor Kurzem sind Verwandte gestorben. Einer war 65 Jahre alt. Er hatte einen Herzinfarkt und danach ist er schwer erkrankt, hat zu Hause lange gelegen, ist nicht ins Krankenhaus gegangen. Er hat eine Lungenentzündung bekommen. Als er dann Sauerstoff bekam, war es zu spät. Er ist gestorben."
Der kirgisische Präsident Sooronbay Jeenbekov mit Gesichtsmaske, gibt am 04. Oktober 2020 in Bischkek in einem Wahllokal seine Stimme ab. Parlamentswahlen fanden in Kirgisistan inmitten der laufenden Pandemie des neuartigen Coronavirus (COVID-19) statt.
Mit Maske: Der kirgisische Präsident Sooronbay Jeenbekov bei der Parlamentswahl Anfang Oktober. Die Wahlkommission hat das Ergebnis für ungültig erklärt. © Getty Images / Anadolu Agency / Dosaliev Sultan
Alle Familien sind betroffen. Die offiziellen Zahlen sind schon hoch, die inoffiziellen noch höher. Nargilija – eine gute Bekannte aus Tokmok – schickt gleich mehrere Sprachnachrichten auf WhatsApp. Ich kenne sie von einem deutschen Hilfsprogramm, das kirgisische Familien mit behinderten Kindern unterstützt. Von ihr erfahre ich, dass viele Familien in existenzieller Not sind, weil sie nicht arbeiten können und deshalb kein Geld haben.
Die Maßnahmen der Regierung für diese Familien greifen nicht. Es sind zu viele, die gleichzeitig Hilfe brauchen, erzählt Nargilija: "Die Leute können noch nicht mal Geld für Medikamente auftreiben. Wenn man jemanden um Geld bittet, dann sagt er: nein, nein. Und die Tagelöhner können auch nicht mehr arbeiten. Alles ist geschlossen."

Auch auf dem Land verbreitet sich das Virus

Auch auf dem Land gibt es Probleme. Zwar gibt es dort genügend Platz – auf und an den hohen Bergen, die mehr als 80 Prozent des Landes bedecken. Viele Familien ziehen dorthin, sobald es warm wird und die Sommerferien Ende Mai beginnen. Sie stellen eine Jurte auf und leben dort, versorgen sich selbst, bis der Herbst kommt.
Jurten sind für die Region typische Rundzelte, in denen die Menschen früher das ganze Jahr über lebten, als sie noch Nomaden waren und mit ihren Tieren von Weide zu Weide zogen. Heute sind sie das Sommerquartier für die Städter. So verbreitet sich das Virus von der Stadt aufs Land.
Normalerweise ist die medizinische Versorgung in den ländlichen Gebieten Kirgisistans gut. Sie stammt noch aus den Sowjetzeiten, als überall medizinische Zentren eingerichtet wurden, um die ärztliche Notversorgung vor Ort sicherzustellen.
Wer aber nun, zu Coronazeiten, medizinische Hilfe braucht, hat ein großes Problem. Denn die Zentren sind völlig überlaufen, wie mir eine gute Bekannte, die auf dem Land lebt, auf WhatsApp erzählt: "Hier, in unserem Bezirk, gibt es eine medizinische Versorgungsstation. Dort gibt es einen Arzt, drei Krankenschwestern und eine Assistentin. Sie schaffen das einfach nicht. Gestern und vorgestern kamen zwar schon etwas weniger Menschen dorthin, aber das ändert nichts. Es ist so, dass die Leute sich selbst behandeln müssen."
Jurte in Kirgisistan
Den Sommer verbringen viele Kirgisen in Jurten außerhalb der Städte: So hat sich das Coronavirus auch auf dem Land verbreitet.© picture alliance / Bildagentur-online / AGF-Hermes
Eine andere ergänzt: "Wir in der Familie haben sieben Tage lang Behandlung am Tropf verschrieben bekommen, ich selbst fünf Tage. Am ersten Tag haben sie uns dort noch kostenlos versorgt. Ab dem zweiten Tag mussten wir schon zahlen." Und zwar sowohl für Antibiotika als auch für die Behandlung. Pro Person knapp sieben Euro täglich. Das ist bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 250 Euro nicht wenig.
"Die Lage ist wirklich sehr schwer. Kein Geld, und die Lebensmittel sind überall teurer geworden. Sehr sogar. Früher konnte mein Mann jeden Tag ein bisschen Geld verdienen, wenigstens für Lebensmittel. Jetzt ist alles geschlossen. Wir haben noch nicht mal Arbeit wegen der Quarantäne. So sitzen wir zu Hause ohne Geld. Wenn das so weitergeht, ich weiß nicht. Wir haben Angst."

Isolation ist in der kirgisischen Kultur unbekannt

Die Angst und die Isolation sind für die Menschen, die das nicht kennen, weil sie sonst draußen sind und mit den Nachbarn den Alltag organisieren, ungewohnt und bedrohlich. So wie für Nargilija, eine typische Kirgisin, Mitte 30, Mutter von vier Kindern, die auf dem Land lebt.
"Die Nachbarn gehen nicht raus. Wir gehen auch nicht raus. Sie sind den ganzen Tag zu Hause, die Türen sind zu. Sie kommen nicht zu uns. Wir gehen auch nicht zu ihnen. Wir sitzen zu Hause, alles ist geschlossen. Wir haben eine sehr schwere Lage. Es heißt immer: Wir helfen, wir helfen. Aber der Staat hilft kein Stück. So ist es. Der Staat hilft nicht."
Viele Ärztinnen und Ärzte sind in der Pandemie gestorben. Es heißt sogar, dass etwa jeder fünfte Tote im Pflegebereich tätig gewesen sei. Deshalb wurden freiwillige Helfer gesucht, um sie zu ersetzen. Medizinstudenten, aber auch andere, haben sich gemeldet.
Auf Youtube berichten sie, was sie erleben. Ich kenne das Krankenhaus, vor dem sie stehen. "Wir wurden gebeten zu kommen. Wir sollten unsere Pflicht als Staatsbürger wahrnehmen. Wir tun alles, was wir können. Es ist ein wahres Schlachtfeld, ein Krieg zwischen dem Virus und uns."
Die Medizinstudentin Adina starb mit nur 21 Jahren, angeblich an einer Lungenentzündung. Ihre Kolleginnen und Kollegen berichten auf Youtube, dass sie alle keine Schulung bekommen haben.

Anleitungen zur Selbsthilfe im Internet

Deshalb gibt es jetzt im Internet Anleitungen zur Selbsthilfe: für den Gebrauch von Sauerstoffgeräten zum Beispiel. Die Ärzte, die ihre Kollegen verloren haben, begannen selbst Hilfe zu organisieren. Einer von ihnen ist Talant. Eigentlich ist er Zahnarzt, aber in dieser Situation hat er im Messengerdienst Telegram die Plattform "Ärzte Online" gegründet und berät dort Patienten. Ich erreiche ihn auf dem Handy im Auto. Er ist ständig unterwegs und springt ein, wo gerade Hilfe am dringendsten gebraucht wird. Seine Beschreibung klingt wie ein vorläufiges Resümee – und ein Appell:
"Unsere Regierung war darauf nicht vorbereitet. Alle Krankenhäuser waren sehr schnell überfüllt. Deshalb fingen sie an, keine Patienten mehr anzunehmen. Daher starben einige auf der Straße, vor den Krankenhäusern. Dann fingen einige Aktivisten mit humanitärer Hilfe an, auch ganz normale Bürger. Sie haben Medikamente gekauft, Sauerstoff organisiert und vieles andere. Ohne unsere Volontäre hätten wir noch viel mehr Menschen verloren. Wir haben auch einen Online-Chat organisiert, auf Telegram, zusammen mit unseren Freunden. Da arbeiten etwa 20 Ärzte, Lungenfachärzte, aber auch andere Fachärzte. Sie wissen ja, bei uns gibt es viel Korruption, nicht alle Hilfe von außen kommt an. Wir haben also Freunde und Verwandte gefragt, was sie beitragen können, und haben einen Fond gegründet. Der Fond kauft dann Medikamente und was gebraucht wird und bringt sie zu den Ärzten."
Mehr zum Thema