Corona-Politik

Von Selbstkritik keine Spur

04:26 Minuten
Der Außenbereich eines Restaurants oder einer Bar mit rot-weißem Absperrband.
Vom Willen zur ehrlichen Aufarbeitung der letzten zweieinhalb Jahre Corona-Politik gebe es keine Spur, sagt René Schlott. © Getty Images / Aitor Diago
Ein Standpunkt von René Schlott · 22.11.2022
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Immer der falsche Zeitpunkt, das falsche Signal: Weitreichende Lockerungen von Coronamaßnahmen ließen in Deutschland auf sich warten. Erst jetzt deutet sich ein Kurswechsel an. Viel zu spät und viel zu langsam, kritisiert Historiker René Schlott.
Meine Herbstferien habe ich wie in den vergangenen Jahren auch in Dänemark verbracht. Einem Land, das für die Entspanntheit seiner Bewohnerinnen und Bewohner bekannt ist. Zauberwort: hygge. Während der Tage im Norden war keine einzige Maske und keine Teststelle zu sehen. Denn in Dänemark sind schon seit vielen Monaten alle Corona-Maßnahmen aufgehoben. Weder im Nah- und Fernverkehr noch in Krankenhäusern gibt es irgendwelche Vorgaben oder Beschränkungen.
Im Juni hatte die dänische Regierungschefin Mette Frederiksen ihre Landsleute mit deutlichen Worten aufgefordert, den Sommer ohne Sorgen zu genießen: „Feiert, umarmt und küsst ohne Bedenken“. Zum selben Zeitpunkt sorgte ihr sozialdemokratischer Parteikollege Karl Lauterbach hierzulande zuverlässig dafür, dass der Alarmton in Sachen Corona bloß nicht nachließ.

Immer der falsche Zeitpunkt für Lockerungen

Von einem deutschen „Freedom Day“ wollte er nichts wissen, für Lockerungen war immer der falsche Zeitpunkt, sie waren angesichts der „Zahlen“ sowieso das falsche Signal, der Sommer dürfe nicht wieder verschlafen werden; die Pandemie sei nicht vorbei, die nächste Welle kommt bestimmt, eine „Killervariante“ nicht auszuschließen. Der Herbst stand schon seit April vor der Tür.
Zwischenzeitlich zogen die vom Bundestag und der Bundesregierung berufenen Sachverständigen zur Evaluation der Corona-Maßnahmen eine ernüchternde Bilanz der vergangenen zwei Jahre: „Insgesamt ist ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Inzidenz und der Maßnahmenstärke nicht erkennbar". Doch völlig unbeeindruckt von diesem verheerenden Rückblick forderten Lauterbach und der Chor seiner medialen und virologischen Sekundanten ein neues Corona-Regime für den Herbst und weissagten schon im Juni in gewohnt apokalyptischer Manier einen „quälend langen Winter“.

Unwürdiges Gefeilsche um Infektionsschutzgesetz

In der Ampelkoalition begannen Verhandlungen für eine Novellierung des Infektionsschutzgesetzes, die in einem unwürdigen Gefeilsche endeten. Mit dem vielbemühten Slogan „Follow the science“ hatte das alles längst nichts mehr zu tun. Grundrechte gerieten unter „Winterreifen“, denen man notfalls die „Schneeketten“ aufziehen müsse - so jedenfalls der infantile Sprachgebrauch der Bundesregierung.
Weil Lauterbach sich nach einem maskenlosen Flug des Kanzlers mit einer Maskenpflicht in Flugzeugen nicht durchsetzen konnte, verschärfte man unter anderem einfach die Maskenpflicht im Fernverkehr der Bahn, und zwar gleich bis zum Karfreitag 2023 - ganz unabhängig davon, wie sich die Coronazahlen bis dahin entwickeln.

Erstmals deuten sich Kurswechsel an

Jetzt deutet sich erstmals ein Kurswechsel an. Schleswig-Holstein hat angekündigt, die Maskenpflicht im ÖPNV am Jahresende auslaufen zu lassen. Und auf das zuletzt deutliche Abflachen der Inzidenzzahl und den raschen Rückgang von coronapositiv-getesteten Intensivpatienten unter die bundesweite 1000-Marke – im Übrigen ganz ohne die bis in dieses Frühjahr geltenden, vermeintlich alternativlosen 2G und 2Gplus-Regelungen – , folgte vor wenigen Tagen das Ende der Isolationspflicht für Infizierte in vorerst drei Bundesländern.
Der Bürger fragt sich derweil, was die aktuelle Situation eigentlich genau von der vor sieben Monaten unterscheidet? Warum entdeckt die Politik gerade jetzt klammheimlich und etwas verdruckst die verfassungsrechtlichen Prinzipien der Eigenverantwortung und der Verhältnismäßigkeit wieder?

Von ehrlicher Aufarbeitung keine Spur

Solchen Fragen weichen die Verantwortlichen aber aus. Vom selbstkritischen Hinterfragen der bisherigen Corona-Politik, gar einer Entschuldigung bei Kritikern und Geschädigten, und dem Willen zur ehrlichen Aufarbeitung der letzten zweieinhalb Jahre keine Spur.
In diesem Sommer hielt sich der Gesundheitsminister zu einem Besuch in den USA auf. Hätte der vielbelesene Mann am 24. Juli, dem Tag seiner Abreise, einen Blick in die „New York Times“ geworfen, hätte er in einem mit zahlreichen Expertenzitaten versehenen Beitrag lernen können, dass wir uns seit Monaten nicht mehr in einer systembedrohenden Pandemie, sondern längst in einer Endemie befinden: „It's the science, stupid.“ In Dänemark hatte man das offensichtlich schon sehr viel früher verstanden. Gut, dass die Erkenntnis nun auch bei uns Einzug hält. Wenn auch viel zu spät und viel zu langsam.

René Schlott ist Historiker und Publizist in Berlin. Er wurde 1977 in Mühlhausen geboren und studierte nach einem Diplom der Betriebswirtschaft Geschichte, Politik und Publizistik in Berlin und Genf. 2011 wurde er mit einer kommunikationshistorischen Arbeit an der Universität Gießen promoviert.

Porträt des Historikers René Schlott
© Angela Ankner
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