Corona in den USA

Hungersnot im Land des Überflusses

22:45 Minuten
Freiwillige sortieren Lebensmittelspenden in Florida vor ihrer Verteilung, 7.8.2020.
Lebensmittelspenden in Florida: Die Zahl der Bedürftigen hat in der Pandemie drastisch zugenommen. © picture alliance / NurPhoto / Paul Hennessy
Von Nicole Markwald · 13.01.2021
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Gehungert wurde in den USA schon vor der Coronakrise. Doch die Pandemie und die folgende Wirtschaftskrise haben das Problem verschärft - trotz staatlicher Unterstützung. 54 Millionen Menschen haben hier nicht genug zu essen, darunter viele Kinder.
Kurz nach sieben Uhr an einem Dienstagmorgen. In einem Einkaufswagen schiebt eine Helferin unzählige mit haltbaren Lebensmitteln gepackte Tüten zu einem der aufgebauten Tische. Dort wird schon fleißig sortiert. Auf einem anderen Tisch stapeln sich Netze voller roter Birnen. Weiter hinten liegt Spielzeug, an der Wand des Gebäudes stehen Kisten mit Windeln und Feuchttüchern.

Die ersten Autos kommen um fünf Uhr früh

Die ersten Autos kommen so gegen fünf Uhr im Morgengrauen, manchmal noch früher, erzählt Cathy Moore. Sie leitet ECHOS. Das steht für Epiphany Community Health Outreach Services. Die Hilfsorganisation ist an die benachbarte Episcopal Church of the Epiphany angegliedert. Mit ihrem Arm zeichnet Moore ein großes S Richtung Parkplatz, so schlängeln sich die Fahrzeuge der Wartenden. Ein paar Sicherheitskräfte sorgen dafür, dass alles reibungslos läuft.
Eine blonde Frau mit Brille und schwarzem Mundschutz steht vor einem Schuppen, auf dem E.C.H.O.S. steht
"Unsere Klienten kommen aus ganz Houston" - Cathy Moore, Leiterin der Hilfsorganisation ECHOS. © Deutschlandradio / Nicole Markwald
ECHOS liegt im Südwesten der texanischen Metropole Houston. Die Gegend ist arm und dicht besiedelt, hier leben hauptsächlich schwarze Familien und Menschen mit Wurzeln in Lateinamerika - das Straßenbild ist geprägt von billigen Fast-Food-Restaurants, Tankstellen und Wohnblöcken.
"Vor einem Jahr hätte ich noch gesagt, unsere Klienten kommen aus der Nachbarschaft. Aber mittlerweile kommen sie aus ganz Houston. Wir sind inzwischen ziemlich bekannt. Die Menschen kommen insgesamt aus fünf verschiedenen Bezirken - und wir sprechen hier über ein sehr großes Gebiet."

Kostenlose Nahrungsmittel für alle

Jeden Dienstagmorgen windet sich die Autoschlange um die Kirche herum und über den Parkplatz - jeder, der vorbeikommt, erhält kostenlos Nahrungsmittel.
In der Morgendämmerung stehen Autos aller Marken in einr Schlange auf einem Parkplatz an.
Im Südwesten der texanischen Metropole Houston - wartende Autos schon früh am Morgen vor der Essensausgabe von Echos.© Deutschlandradio / Nicole Markwald
Das funktioniert natürlich nur mit vielen freiwilligen Helfern. Vasco ist heute zum ersten Mal dabei - er hat seine beiden Kinder mitgebracht.
"Sie haben diese Woche keine Schule, deshalb habe ich sie mitgebracht. Uns geht es gut und deshalb ist es mir wichtig anderen zu helfen."

"Es gibt hier Zustände wie in der Dritten Welt"

Für seine zwölfjährige Tochter und den elfjährigen Sohn sei es schwer zu verstehen, wie groß die Not mancher Menschen ist.
"Sie glauben noch, dass jeder so lebt wie wir. Aber hier gibt es teilweise Zustände wie in der Dritten Welt. Es ist ein so reiches Land, aber Menschen leiden Hunger, leben in Armut und schaffen es nicht, sich zu versorgen."
Prall gefüllte zugeknotete weiße Plastiktüten und große Kartons werden auf der Straße aufeinander gestapelt.
Überlebenswichtig für viele Menschen in den USA - Gepackte Lebensmitteltüten und -Kartons.© Deutschlandradio / Nicole Markwald
Gehungert wurde in den USA schon vor der Coronakrise. So nahmen ohnehin rund 35 Millionen Menschen laut der Organisation Feeding America Tafeln in Anspruch. Feeding America ist ein Zusammenschluss von über 200 Tafeln im ganzen Land. Doch der Ausbruch der Pandemie und die einhergehende Wirtschaftskrise hat katastrophale Folgen, trotz einiger staatlicher Unterstützung.

54 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen

Schätzungsweise 54 Millionen Menschen in den USA haben nicht genug zu essen und ein Viertel der Betroffenen sind Kinder. Kate Leone von Feeding America sagte in einem Interview mit dem Radiosender NPR:
"Es spiegelt die wirtschaftliche Situation wieder. Orte wie Las Vegas oder Atlantic City, die so sehr vom Tourismus und der Dienstleistungsindustrie abhängen, sind schwerer betroffen. Aber wir sehen: In jeder einzelnen Region im Land haben Menschen zu wenig oder nichts zu essen."

Auch in der "Weltzeit" - ein Interview mit der Washington-Korrespondentin Doris Simon zur Wohnungsnot im Land des Überflusses:

In Zeiten von Corona hat sich neben der Ernährungssituation auch die Lage auf dem Wohnungsmarkt in den USA dramatisch zugespitzt. Aktuell droht jedem zehnten US-Bürger der Verlust der eigenen Wohnung. Etwa 100 Millionen Menschen in den USA leben in Mietwohnungen. Jeder vierte Mieterhaushalt gibt ungefähr die Hälfte seines Einkommens für die Wohnung aus.

Der Jobverlust von Millionen Menschen in Folge der Pandemie und der dadurch ausgelösten Wirtschaftskrise sowie nicht vorhandene finanzielle Rücklagen tragen dazu bei, dass die Mieten nicht mehr bezahlt werden können und Zwangsräumung sowie Obdachlosigkeit drohen. Das betrifft vor allem die weniger gut Verdienenden, insbesondere alleinerziehende Frauen und vor allem alleinerziehende schwarze Frauen.

Der noch amtierende US-Präsident Donald Trump interessierte sich in seiner Amtszeit mehr für Immobilien als für bezahlbaren Wohnraum. Sein designierter Nachfolger Joe Biden will sich demgegenüber für eine faire Wohnungspolitik einsetzen: So sollen Schwarze wie Weiße gleiche Chancen beim Erwerb von Wohnungen und Häusern haben, was derzeit nicht der Fall ist. Biden hat außerdem eine schwarze Ministerin für Wohnungsbau vorgeschlagen, die sich vor allem um die immensen Mietschulden im Land kümmern und die Obdachlosigkeit reduzieren soll.

Eine Analyse des Institutes for Policy Research der Northwestern Universität schlüsselt die Situation noch genauer auf: Besonders betroffen sind Familien mit Kindern. 27 Prozent der schwarzen Familien und 23 Prozent der Familien mit lateinamerikanischem Hintergrund berichten, zu wenig zu essen zu haben. Die Zahl betroffener weißer Familien ist halb so hoch.
Eine junge Frau mit schwarzem Pulli und Mundschutz steht an dem heruntergelassenen Fenster eines Autos und macht sich Notizen.
Ein System, dass nur mit vielen Freiwilligen funktioniert - eine Helferin nimmt Daten von Empfängern von Nahrungsmitteln auf.© Deutschlandradio / Nicole Markwald
Mit Klemmbrett und Stift steht eine freiwillige Helferin beim nächsten Auto vor ECHOS in Houston. Jeder, der herkommt, um kostenlose Lebensmittel zu erhalten, wird in eine Datei aufgenommen. Die Kommunikation ist zum Teil umständlich - diese Fahrerin versteht kaum englisch - aber nach einigem Hin und Her steht fest, dass sie ihre sechsköpfige Familie versorgen möchte.

"Am Ende des Monats wird es eng"

An diesem Tag können die Helfer bei ECHOS auch Wertgutscheine für einen Supermarkt aushändigen, einem großzügigen Privatspender sei Dank. Das freut Pablo. Der 72-Jährige ist zu Fuß hergekommen, er wartet in einer separaten Schlange.
"Ich komme über die Runden, ich bin Rentner, arbeite nicht mehr. Ich komme alle zwei Wochen her, ich will das Angebot nicht ausnutzen."
Vor seiner Pensionierung war Pablo Zementarbeiter, ein körperlich anstrengender Job, den er nicht mehr schafft.
"Ich bekomme ein wenig Rente, dann erhalte ich Lebensmittelmarken. Aber am Ende des Monats wird es eng. Rechnungen, Miete - es reicht einfach nicht ganz."
Ein älterer Mann mit Käppi, Jeansjacke und hellblauem Mundschutz steht vor einem Holzschuppen.
"Ich will das Angebot nicht ausnutzen" - Der 72-jährige ehemalige Zementarbeiter Pablo.© Deutschlandradio / Nicole Markwald
Er klingt gelassen, auf keinen Fall wolle er sich beklagen, versichert Pablo. "Ich bin dankbar für das bisschen, das ich habe und hier bekomme. Ich bin wirklich dankbar. Wie es morgen weitergeht? Weiß ich nicht. Ich kann mich nur auf heute konzentrieren."

Große Not seit Beginn der Coronakrise

Heute geht Pablo mit Grünen Bohnen, Kichererbsen, Tomatensauce und Pfirsichen, dazu zwei Thunfischdosen, Wiener Würstchen, einer Packung Nudeln, Müsliriegeln und Orangen nach Hause. Und kann wieder ein wenig durchatmen. Nicht zu wissen, wo die nächste Mahlzeit herkommt, ist ein unsichtbarer Stress.
Doch wie groß die Not seit Beginn der Coronakrise geworden ist, ist im ganzen Land deutlich sichtbar. Die Schlange der wartenden Autos an Essensausgaben ist teilweise kilometerlang - ob in Kalifornien, Alabama oder Maine.
Ein Zettel mit notierten nummerierten Lebensmitteln wie grüne Bohnen und Nudeln.
Grüne Bohnen, Thunfisch, Nudeln - Hinweistafel, was alles in Tüten gepackt werden kann.© Deutschlandradio / Nicole Markwald
Die US-Regierung versucht zu helfen: bereits im März 2020 wird das mit rund 2,2 Billionen Dollar größte wirtschaftliche Rettungspaket in der Geschichte der USA verabschiedet. Darin enthalten: Einmalzahlungen von 1200 Dollar an bedürftige erwachsene Amerikaner und 500 Dollar pro Kind und die Ausweitung des Arbeitslosengelds. Vier Wochen später das nächste Konjunkturpaket.

Die Regierung versucht zu helfen

Im Mai fällt der Startschuss für das "Farmers to Families"-Programm. Die Regierung stellt 4,5 Billionen Dollar bereit, um Nahrungsmittel von geplagten Farmern abzukaufen und mit Hilfe von gemeinnützigen Organisationen damit hungernde Familien zu versorgen. In jeder Box: sechs Kilogramm Lebensmittel. Obst und Gemüse, Milch, Fleisch und Käse. Und ein Brief des Präsidenten.
"Deshalb haben wir das 'Farmers to Families'-Programm ins Leben gerufen. Das Landwirtschaftsministerium kauft Produkte von Farmern in großem Umfang auf und lokale Organisationen verteilen damit gefüllte Kartons an Familien, die Hilfe brauchen und so gutes Essen erhalten."
Drei Frauen in einem Raum befüllen Plastiktüten mit Lebensmitteln.
Die Hilfspakete der Regierung reichen nicht - Freiwillige Helfer packen Hilfsgüter.© Deutschlandradio / Nicole Markwald
Von Mai bis Ende Dezember wurden über 132 Millionen dieser Kartons im ganzen Land verteilt - nicht ohne logistische Probleme. Je länger die Krise andauert, desto mehr steigt der Bedarf, aber mit jedem Quartal steht immer weniger Geld zur Verfügung. Ausgerechnet in der Woche vor Weihnachten war dann ganz Schluss mit den mit Lebensmitteln gefüllten Paketen der Farmer für notleidende Familien.

600 Dollar als Tropfen auf den heißen Stein

Nun, kurz vor Ende seiner Amtszeit unterzeichnet US-Präsident Donald Trump ein weiteres Hilfspaket. Umfang: 900 Milliarden Dollar. Und wie schon im März gibt es Einmalzahlungen für Menschen unter einer bestimmten Einkommensgrenze: 600 Dollar. Für May ein Tropfen auf den heißen Stein.
"Wird das reichen? Nein. So viele Familien kämpfen ums Überleben. Sie haben seit Monaten ihre Miete oder Kredite nicht bezahlt - da bringen die 600 Dollar sie auch nicht groß weiter. Ich frage mich, warum müssen wir so hart kämpfen?"
May ist 57 Jahre alt und arbeitet in der Terminvergabe einer medizinischen Praxis. Mit der Pandemie wurden ihre Stunden gekürzt. Nun kommt sie zu ECHOS in Houston um ihren Vorratsschrank ein wenig aufzustocken. Sie kocht und backt außerdem für ältere Mitglieder ihrer Kirchengemeinde.
"Ich gehe zu ECHOS und anderen Einrichtungen, das hilft mir wirklich. Ich koche häufiger. Wir tun, was wir müssen, um über die Runden zu kommen."

Warum gibt es so viel Elend im reichen Amerika?

Mit ihrer Familie hat sie engen Kontakt, ihre 87-jährige Mutter lebt bei ihrer Schwester in Mississippi. Wegen Corona sehen sie sich zur Zeit nur beim Videotelefonieren.
"Ich wundere mich schon und habe gestern erst mit meiner Schwester gesprochen: Amerika ist doch so reich, warum haben wir so viele Obdachlose und Menschen, die hungern?"
Das US-Landwirtschaftsministerium schätzt, dass sich 54 Millionen Amerikaner nicht ausreichend ernähren können. Das sind 45 Prozent mehr als vor einem Jahr. Wie groß die Not ist, zeigt sich auch in einem der wichtigsten Sozialprogramme SNAP. SNAP - das steht für Supplemental Nutrition Assistance Program. Es ist der Nachfolger des Lebensmittelmarken-Programms, das 1939 unter Präsident Franklin Roosevelt eingerichtet wurde. Bedürftige konnten Lebensmittelmarken in ausgewählten Supermärkten einlösen.

Kreditkarten für Bedürftige

Heute muss niemand mehr umständlich verschiedene Marken an der Kasse vorzeigen. Wer wegen geringen Einkommens in das Programm aufgenommen wird, erhält eine Art Kreditkarte, die in den üblichen Supermärkten akzeptiert wird.
In der Pandemie ist das SNAP-Programm zu einem Auffangnetz geworden. Allein in den ersten drei Monaten der Coronakrise wuchs die Zahl der Empfänger um sechs Millionen. Im neuesten Hilfspaket wurde der Maximalbetrag um 15 Prozent erhöht. Bislang erhielt eine vierköpfige Familie höchstens 680 Dollar pro Monat auf ihrer SNAP-Karte.
Doch Cathy Moore, Leiterin der Hilfseinrichtung ECHOS, sagt:
"Dieses Programm ist wunderbar und ich hoffe, alle Bundesstaaten profitieren davon. Aber viele Familien trauen sich nicht, sich dafür zu bewerben. Obwohl sie ein Recht darauf haben. Das sind oft Familien, in denen die Kinder US-Bürger sind, weil sie hier geboren wurden und die Eltern lediglich eine Aufenthaltsgenehmigung haben. Sie haben Sorge, dass es ihrer Bewerbung um die Staatsbürgerschaft schadet. Und dann sind die Kinder quasi ein Kollateralschaden."

Die Trump-Regierung hat die Hilfe für Migranten erschwert

Cheasty Anderson kann das genauer erklären. Sie ist beim Children's Defense Fund in Austin, Texas tätig.
"Die Trump-Regierung hat in den zurückliegenden vier Jahren vieles getan, um eingewanderten Familien den Zugang zu Hilfsprogrammen für Menschen mit geringem Einkommen zu erschweren."
Parallel habe die US-Regierung ein Klima der Angst geschaffen, erklärt Anderson weiter.
"Man beschleunigte die Abschiebungsverfahren, führte Razzien an Arbeitsplätzen durch auf der Suche nach Menschen ohne Aufenthaltsrecht, trennte Kinder von ihren Eltern an der Grenze. All das führte dazu, dass diese Gruppe sich nicht sicher fühlt und deshalb davor zurückschreckt, ihre hier geborenen Kinder bei Hilfsprogrammen anzumelden, obwohl die jedes Recht darauf haben."

Man muss das mit eigenen Augen sehen

Wenn das Geld knapp wird, irgendwie die Miete bezahlt werden muss, wird oft zuerst beim Essen gespart. Die Folge: Unter- oder Mangelernährung im Land des Überflusses. Cathy Moore versucht mit der Hilfsorganisation ECHOS Abhilfe zu schaffen. Doch sie hat Sorge, ob der Rest des Landes wirklich begreift, wie dramatisch die Lage gerade ist.
"Das, was ich hier sehe, ist Alltag. Unsere Telefone stehen nicht still, es gibt so viele Menschen, die Hilfe brauchen. Und dann fahre ich nach Hause in meine Nachbarschaft und ich glaube nicht, dass dort jedem klar ist, wie schlimm es um andere steht. Dass hier Familien stundenlang anstehen für ein paar Nahrungsmittel. Wer das nicht mit eigenen Augen sieht, kann das ungeheure Ausmaß der Not nicht erahnen."
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