Coming-of-age-Geschichte in der DDR

27.03.2013
Vom Prenzlauer Berg zieht Mitte der 70er-Jahre Markus mit seinen Eltern an den grauen Berliner Stadtrand und verbringt seine Freizeit fortan mit dem abstoßenden und zugleich charismatischen Reiner Nilowsky. Nach "Boxhagener Platz" hat Torsten Schulz erneut einen Roman geschrieben, der atmosphärische Qualitäten und Stärken hat.
Nach seinem Erfolgsroman "Boxhagener Platz" hat Torsten Schulz nun ein weiteres Buch über die schrägen Seiten der DDR geschrieben. Schauplatz von "Nilowsky" ist eine heruntergekommene Ostberliner Standrand-Landschaft im Schwefeldunst einer Chemiefabrik.

Der vierzehnjährige Markus Bäcker ist soeben – es ist das Jahr 1976 – mit seinen Eltern hierher gezogen (sein Vater hat einen leitenden Posten in der Fabrik), und es gibt wenig, was ihn für die verlorenen Freunde vom Prenzlauer Berg entschädigen kann. Dicht am Haus rattern die Züge vorbei, unten im "Bahndamm-Eck" wabert der Bier- und Schnapsdunst.

Bald aber schließt Markus eine merkwürdige Freundschaft mit dem drei Jahre älteren Reiner Nilowsky, einer überaus schillernden Gestalt: abstoßend und charismatisch zugleich, ein wirrer Kopf, der unentwegt fantastische Ideen ausbrütet und sich ein ganz eigenes Bild von der Welt und vom Sozialismus zurechtmacht.

Nilowsky kommt aus zerrütteten Verhältnissen. Seine Mutter ist lange tot, sein Vater der versoffene Wirt des "Bahndamm-Ecks". Der Sohn verflucht ihn (eines aus einer ganzen Reihe von Huckleberry-Finn-Motiven), wünscht ihm den Tod, möchte ihn am liebsten sogar eigenhändig umbringen. Aber auch nach dem Selbstmord des Alten mittels einer Überdosis Schnaps der Marke "Meldekorn" kommt er nicht los von der übermächtigen Vaterfigur und wird ihr immer ähnlicher.
Markus Bäcker, der brave Bürgersohn, gerät in den Bann des verwegenen, bald auch verrufenen, halb kriminellen Nilowsky, hört sich seine faszinierenden Geschichten an und lässt sich auf heikle "Vertrauensbeweise" ein. Eines eisigen Wintertages fordert Nilowsky ihn auf, die Bahngleise zu lecken. Die Zunge friert fest an der Schiene; in drei Minuten kommt der Zug. Gerade noch rechtzeitig pinkelt Nilowsky Markus auf die Zunge.

Zum Personal gehört eine Gruppe von Hilfsarbeitern aus Mozambique, die zwar befähigt sind, die Region um das Chemiewerk um drei Grad menschlich zu erwärmen, aber auch einige eher unappetitliche Spezialitäten zu bieten haben: ungewöhnliche Sexualpraktiken mit Fliegen und "Wudu"-Rituale, bei denen Hühnerblut spritzt. Dann gibt es noch eine Riege skurriler älterer Frauen, "Neger-Wally" und ihre Freundinnen, die sich angelegentlich um die sozialistischen Brüder aus Afrika kümmern.

Eingepasst in die Milieustudie ist eine Dreiecksgeschichte: Nilowskys große Liebe ist Carola, die irgendwann beschließt, niemals älter als dreizehn zu sein. Hartnäckig spart Nilowsky Unmengen von Sperma für sie auf. Nur hat sich dummerweise auch Markus Bäcker in Carola verliebt. So ist für eine gewisse Melodramatik gesorgt.

"Nilowsky" ist eine Coming-of-age-Geschichte, die zwar in der DDR spielt, aber nicht als historische Aufarbeitungsübung und Lehrstück über die Diktatur daherkommt. Die proletarische Stadtrandatmosphäre, die hier vergegenwärtigt wird, wäre Mitte der Siebziger ähnlich wohl auch im Ruhrgebiet Ralf Rothmanns zu finden gewesen, von einigen realsozialistischen Details abgesehen.

Dies ist keine Romanwelt, die einen beim Lesen umstandslos in den Bann zieht, die aber doch eindringlich wirkt durch sinnliche Präsenz, atmosphärische Qualitäten und einige starke Szenen. Torsten Schulz, Drehbuchautor und Professor für Dramaturgie in Babelsberg, versteht sich aufs filmische Schreiben ebenso wie auf eine am frühen Grass geschulte Poetik des Ekels.


Besprochen von Wolfgang Schneider

Torsten Schulz: "Nilowsky"
Klett-Cotta, Stuttgart 2013
285 Seiten, 19,95 Euro


Kino im Kopf
Torsten Schulz: "Revolution und Filzläuse"Goyalit, Hamburg 2010, 3 Audio-CDs, 205 Minuten
"Boxhagener Platz"
Hans-Ulrich Pönack über eine Berliner Milieu-Komödie