Comiczeichnerin Jillian Tamaki im Portrait

"Deine Arbeit entwickelt ein Eigenleben"

Ausschnitt aus dem Comic "Ein Sommer am See" von Jillian und Mariko Tamaki
Ausschnitt aus dem Comic "Ein Sommer am See" von Jillian und Mariko Tamaki © Reprodukt Verlag
Von Jule Hoffmann · 12.10.2017
Als Shootingstar der internationalen Comic-Szene wurde sie beim Hamburger Comicfestival angekündigt: die Kanadierin Jillian Tamaki. Zurecht - denn die Comiczeichnerin ist Trägerin des Eisner-Awards und zudem bekannt für ihre Illustrationen in der New York Times und im New Yorker.
"The idea of a sitcom porno was conceived by me and Ron Frances who I met in the writers crew of 'Stages' which had been cancelled the previous year…"
Neben einem Beamer sitzt die kanadische Comiczeichnerin Jillian Tamaki an ihrem Laptop und liest aus ihrem neuen Comicband vor. Im Saal vor ihr drängt sich das verregnete Hamburger Publikum. Die Luft ist feucht, draußen gießt es in Strömen.
Besucher stehen am 24.05.2012 vor dem Eingang einer großen Foyer-Halle des Theaters Kampnagel in Hamburg.
Theater Kampnagel in Hamburg© picture-alliance / dpa / Georg Wendt
"Well, what can I say. It was the 90s and we were doing a lot of cocaine. – Cut! Fantastic! That’ll work."
Jillian Tamaki ist etwa 1,80 groß, hat kinnlange schwarze Haare und einen Pony und eine kräftige Stimme. Sie wirkt entspannt, fast souverän. Viel Aufmerksamkeit bekam sie 2008 für "Skim" und 2014 für "Ein Sommer am See"– eher mainstreamige Graphic Novels, neben denen Tamakis neuer Comicband "Grenzenlos" geradezu experimentell wirkt. Der Stil variiert extrem.
Ein großer Vogel im Sturzflug in gestochen scharfem Schwarzweiss
Eine volle Tanzfläche in einem Club als impressionistisches Aquarell
Rankende exotische Pflanzen als krakelige Federzeichnung
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
© Reprodukt Verlag
Jillian Tamaki kann offenbar alles zeichnen, in jedem beliebigen Stil. Wer nach einer Handschrift Tamakis sucht, wird eher auf der inhaltlichen Ebene fündig. Häufig handeln die Comics von jungen Erwachsenen, von zwischenmenschlichen Beziehungen; es geht um Empathie, die persönliche Freiheit und Grenzüberschreitungen. Auch Internetphänomene tauchen wiederholt auf. Eine Geschichte handelt von einem magischen zweiten Facebook, das ein Eigenleben führt; eine andere von einem mysteriösen Audiofile, das auf Teenager wie eine Droge wirkt.
Ausschnitt Comic: "Recherchen ergaben, dass die Originaldatei von einem Computer in Tempe, Arizona, hochgeladen wurde. Versuche, mit dem Verantwortlichen Kontakt aufzunehmen, blieben erfolglos. Die IP-Adresse hatte sonst keine Spuren hinterlassen."

Die Macht der Comic-Szene

"Es macht Spaß, das Internet zu mythologisieren, weil es etwas ist, das wir sehr ernst und zugleich überhaupt nicht ernst nehmen. Wir betrachten es abwechselnd als Bürde oder als Werkzeug oder als Unterhaltung. Bei Internetphänomenen ist es egal, woher sie kommen, es ist interessanter, wohin sie sich entwickeln: die Community, die daraus entsteht, der Mythos, den jemand an die Sache heftet. Und es wird zu einem Teil der Identität der Leute und zu dieser bedeutenden Sache, um sich mit anderen zu vernetzen. Zum Teil wird es wichtiger als das eigene tägliche Leben, und das kann etwas Gutes oder etwas sehr Schlechtes sein. Und wenn du mit Comics zu tun hast, bist du dir der Tatsache sehr bewusst, wie sehr die Comicszene und Fangemeinden online vernetzt sind und wie mächtig sie sind. Der Künstler ist nicht mehr relevant, du bist bloß die Urheberin, aber du hast nicht das letzte Wort. Deine Arbeit entwickelt ein Eigenleben und das kann schon beunruhigend sein."
In ihrer Web-Comicserie "Supermutant Magic Academy", die sie über vier Jahre als Blog betrieb, erzählt Tamaki von den Alltagssorgen von Teenagern.
Und belebt dabei den ganzseitigen Comic Strip wieder, das dominante Format von Comics in Zeitungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Pro Seite sechs Panels. Die kurzen prägnanten Clips erinnern in ihrer Pointiertheit an die Peanuts von Charles M. Schulz, sind allerdings weit weniger naiv und näher an der Alltagswirklichkeit.
"Ich finde, das tägliche Leben ist sehr reich und absolut nicht banal. Im Alltag begegnen uns Macht und Politik und all die großen Angelegenheiten dieser Welt. Man kann reinzoomen zu Miniatur-Größe und da tragen wir all diese Dinge mit uns herum, wir üben Macht aus und fügen uns der Macht, und zwar die ganze Zeit, während wir nur die Straße entlang laufen, unseren Tagesgeschäften nachgehen oder bei der Arbeit sind. Deshalb denke ich nicht, dass sich Alltägliches von den in Anführungszeichen wichtigen Dingen trennen lässt."
Ob konventionell oder eher experimentell – Tamakis Comic-Geschichten sind direkt aus dem Leben gegriffen: anspruchsvoll gezeichnet, gut getextet, solide, stellenweise genial. Wer sich online durch die Strips von "Supermutant Magic Academy" klickt, kann damit gute zwei Stunden verbringen, ohne zu merken, wie die Zeit vergeht.
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