Comic über jamaikanische Musik

Wie die Chinesen den Reggae miterfanden

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Im Titelpanel des Online-Comics "Redemption Songs" von Krish Raghav ist eine Vinylplatte mit der Aufschrift "Beijing Babylon" zu sehen. Im Hintergrund stilisierte Segelschiffe.
Der Webcomic "Redemption Songs" erzählt vom chinesischen Einfluss auf die Reggaemusik in Jamaika. © Krish Raghav
Andreas Müller im Gespräch mit Max Oppel  · 07.08.2019
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Eine popkulturelle Pioniertat ist heute fast vergessen: Der Reggae profitierte in seinen Anfängen von der Förderung durch chinesischstämmige Jamaikaner, an deren Rolle erinnert unser Kritiker Andreas Müller. Ein Comic hat das Thema aufgegriffen.
Mit Jamaika verbinden die meisten Menschen wohl Reggae und mit Reggae den bis heute verehrten Superstar Bob Marley. Der Musiker begann seine Karriere 1962 mit einem rumpelnden Ska-Song namens "Judge Not". Das Stück erschien auf einem Label, das von einem Mann chinesischer Herkunft betrieben wurde: Leslie Kong.
Tatsächlich ist der Einfluss der Nachfahren chinesischer Arbeitsmigranten auf die jamaikanische Musik enorm. Um die Rolle der Jamaika-Chinesen geht es in dem Comic "Redemption Songs" von Krish Raghav, der online erschienen ist. Kritiker Andreas Müller hat ihn sich genauer angesehen.

Chinesische Förderung

Max Oppel: Ist es tatsächlich so, dass die Chinesen den Reggae miterfanden?
Andreas Müller: Sie stellten zumindest die Infrastruktur bereit. Man muss wissen: Jamaika war - ausgebeutet durch die britischen Kolonialherren - ein armes Land, weitgehend ohne eigene kulturelle Identität. Auch wenn im Jahr der Unabhängigkeit 1962 die Sklaverei seit mehr als 100 Jahren abgeschafft war, wurden die sozialen Zusammenhänge noch immer stark davon geprägt.
Wenige besaßen sehr viel, viele besaßen nichts und dazwischen befand sich eine dünne Mittelschicht, die im Wesentlichen von Einwanderern aus dem Nahen Osten (Libanon und vor allem Syrien) und China bestand. Die Chinesen wurden "Coolies" genannt und waren ursprünglich bettelarme Leute, die die Arbeit der früheren Sklaven verrichteten. Sie hatten sich innerhalb von zwei Generationen zu bedeutenden Geschäftsleuten emporgearbeitet.
Darunter war auch die Familie Kong. Sie betrieb einen Eisladen namens Beverley’s und hatte mit Leslie einen Visionär, der erkannte welche große Bedeutung Musik für die einfachen Leute hatte. Er fing an, in Jamaika Musik für Jamaikaner zu produzieren: roh, ungeschliffen und anfangs nicht sonderlich erfolgreich. Aber es gingen zukünftige Superstars durch sein Studio. Wie Jimmy Cliff.
Ein Konzert mit dem Reggae-Musiker Jimmy Cliff 2019 in Köln.
BIs heute gibt der Reggae-Musiker Jimmy Cliff Konzerte, wie hier in Köln. © Geisler-Fotopress
Oppel: Der junge Jimmy Cliff war lange vor Bob Marley ein Star und auch in Europa bekannt.
Müller: Ich habe ihn vor einigen Jahren mal gefragt, wie das damals war. Er sagte, dass er für seine erste Platte, also zwei Songs, drei Pfund (Anm. damals hieß die Währung noch Pfund, später war des dann der Jamaikanische Dollar) bekommen hatte. Eine enorme Summe, für die er sich einen Anzug, ein paar Schuhe und reichlich zu essen kaufen konnte. Anders als die afro-karibischen Produzentenkollegen, zahlte Kong also ordentlich. Desmond Dekker und viele viele andere nahmen für ihn auf. Er hatte Kontakte nach England, wo viel jamaikanische Migranten wohnten und ein zweiter Markt entstanden war. Leider starb er bereits 1971 im Alter von 38 Jahren.

Fake-Fernost-Ästhetik

Oppel: Verstanden denn die Chinesen so viel von der Musik?
Müller: Die meisten nicht. Produzent sein heißt damals: Das ist der, der Geld hat, ein Studio besitzt oder dafür bezahlt. So taucht sein Name oft auch als Komponist auf. Das eigentliche Produzieren, die musikalische Arbeit, lag in den Händen der jeweiligen Bandleader im Hintergrund. Eine Ausnahme ist Byron Lee, dem wir das hübsche Stück "Always Together - A Chinese Love Song" zu verdanken haben, ein Rocksteady Stück von 1967. Ein Chinese, Stephen Cheng, singt es. Produziert von Byron Lee. Bassist, vor allem aber cleverer Geschäftsmann, der mit "Dynamic" ein Label und Studio besaß.
In den 1960ern gab es in Jamaika übrigens eine gewisse Begeisterung für etwas namens "Far East Sound" - so eine Fake-Fernost-Ästhetik, deren Melodien auf pentatonischen Skalen basierten. Schönes Beispiel von den Skatalites ist der Song "Confucius".
Oppel: Das alles beschreibt Raghav in seinem Comic - akkurat?
Müller: Nun, es fehlen mir die Hookim-Brüder, die mit ihrem Studio und Label Channel 1 den Sound und die Inhalte des Reggae nachhaltig verändern sollten und einige Jahre lang alles dominierten. Mir fehlt, wie auf dem Höhepunkt des Roots-Reggae, Mitte der 1970er Jahre, gegen nicht-schwarze Einwanderer, also auch die Chinesen, in vielen Songs heftigst polemisiert wurde. Und es fehlen wichtige Details: die Chin Familie, ebenfalls sehr wichtig, emigrierte mit ihrem VP-Label (dem bis heute mächtigsten Reggae-Label überhaupt) Ende der 1970er von Jamaika nach New York. Als wäre das eine geschäftliche Entscheidung gewesen.
Tatsächlich befand sich die Insel damals am Rande eines Bürgerkrieges, der jährlich rund tausend Tote forderte. Die sozialistische Regierung von Premierminister Michael drohte zudem damit, die privaten Betriebe zu verstaatlichen. Das führte zu einer Massenflucht der Mittelschicht, die bis heute die Wirtschaft Jamaikas plagt. Die meisten Chinesen gingen übrigens nach Kanada.
Oppel: Es gibt aber ja noch einen zweiten Teil.
Müller: Der ist durchaus interessant: Während Reggae zu einem globalen Phänomen wird und sich weltweit Bands gründen, die im Wesentlichen den klassischen One-Drop-Roots-Reggae spielen, bleibt China lange außen vor. Das ändert sich mit der allmählichen Öffnung des Landes. Mitte der 1990er-Jahre exlodiert die Szene, angefeuert durch einen bemerkenswerten Kulturtransfer.
Unverkäufliche CDs und Kassetten, deren Hüllen - damit sie im Westen nicht mehr kommerziell verkauft werden können - angesägt werden, werden zu zig-tausenden in China quasi abgekippt. "Dakou" nennt man die. Damit gelangt westliche Musik ins Land. Ausgerechnet in Yunnan entsteht eine vitale Szene. Das ist jene Provinz, aus der Mitte des 19. Jahrhunderts so gut wie alle "Coolies" von China nach Jamaika gebracht wurden.
Oppel: Und wie ist diese Musik?
Müller: Musikalisch so, wie all diese nicht-jamaikanischen Bands so klingen. Inhaltlich - nun, ich verstehe kein Chinesisch - habe aber gelesen, dass hier durchaus rebellische Töne anklingen. Übrigens vom Volke der Wa, einer Minderheit, die von den Han-Chinesen unterdrückt wurde und deren Reggae-Musiker eine analog zur Rastafari Kultur eigene Gegenkultur entwickelt haben.
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