Coburg und der ICE-Anschluss

Rasend durch die Provinz

ICE
Mit dem ICE von München nach Berlin ist jetzt noch schneller möglich. © imago/Future Image
Von Tobias Krone · 08.12.2017
In vier Stunden von München nach Berlin. Dank der Neubaustrecke Ebensfeld -Erfurt, die durch den Thüringer Wald führt, ist das jetzt möglich. Für viele Berufspendler dürfte die Neubaustrecke ein Segen sein. Skeptisch ist man dagegen in der Provinz, wie in der florierenden Industriestadt Coburg.
Mit dem ICE von München nach Berlin, das war bisher ein eher beschauliches Unterfangen. Nur jeder fünfte ließ sich auf das Geschaukel durch die Mitte Deutschlands ein. Christoph Frank macht die Verbindung seit einem halben Jahr jedes Wochenende mit der Bahn. Am Freitag zur Familie nach München, am Sonntagabend zurück nach Berlin. Künftig jedes Wochenende vier Stunden weniger im Zug zu sitzen – das ist für den 44-Jährigen ein echter Zeitgewinn.
"Es gibt ja auch diesen Sprinter. Wenn man den nimmt, hätte man ja auch die Möglichkeit, sehr früh loszufahren und zu einer Zeit am Montagmorgen im Büro zu erscheinen, wo andere Kollegen auch dann manchmal erst kommen. Von daher denke ich, dass man dann schon ein bisschen mehr Zeit jetzt auch wieder hat."

Für Siemens eine Art optimierte Hausverbindung

Christoph Frank arbeitet beim Siemens Historical Institute, dem Archiv des Elektrokonzerns. Für Siemens ist die neue Bahnstrecke eine Art optimierte Hausverbindung. In München und Berlin sind die Firmenzentralen, der wichtige Standort Erlangen liegt ebenfalls an der Strecke. Mit den schnellen ICE-Zügen aus Siemens-Fertigung brausen künftig Mitarbeiter durch die wiedervereinigte Bundesrepublik. Auch für viele andere Menschen in Südostdeutschland dürfte am Wochenende ein neues Zeitalter beginnen.
Klaus-Dieter Josel: "Hier wird das System Eisenbahn, hier wird die Deutsche Bahn wettbewerbsfähig. Es lohnt sich nicht mehr zu fliegen, und schon gar nicht mit dem Auto zu fahren. Die Reisezeit im Zug ist sinnvoll, ist nutzvolle Zeit. Und wir sind überzeugt, dass wir hier mehr Kunden auf die Schiene bekommen werden."
Der Konzernbevollmächtigte der Bahn für Bayern Klaus-Dieter Josel rechnet damit, dass künftig fast jeder Zweite die Strecke mit der Bahn fährt. Das Projekt bewirbt der Konzern als Deutschlands modernste Bahnstrecke.


Imposant und etwas klotzig erhebt sich die Füllbachtalbrücke über den Süden der Industriestadt Coburg und durchschneidet die Hügellandschaft. Die ICE-Züge werden sie gewissermaßen überfliegen. Und mit Tempo 300 in einem Tunnel verschwinden. Nur drei ICE-Züge in jede Richtung werden täglich abbremsen – und einen Abzweig nehmen, um in Coburg zu halten. Das kränkt die Seele der 40.000-Einwohner-Stadt, zumindest die historische. Denn immerhin entstammt aus der Coburger Adelslinie die englische Königsfamilie Windsor.
Schloss Ehrenburg
Schloss Ehrenburg in Coburg© Deutschlandfunk Kultur / Tobias Krone
Norbert Tessmer: "Deswegen hat man damals Coburg auch als die heimliche Hauptstadt Europas bezeichnet. Gut – das war."
Norbert Tessmer, SPD, Oberbürgermeister Coburgs, empfängt im stattlichen Rathaus aus dem 16. Jahrhundert.
"Aber jetzt zur Gegenwart: Wir sind einer der wirtschaftlich, industriell stärksten Räume, nicht nur in Bayern, Deutschland, sondern auch in Europa mit 30.000 Arbeitsplätzen in der Stadt Coburg."
Nicht nur der Versicherungskonzern HUK residiert hier im äußersten Norden Bayerns mit 5000 Mitarbeitern – direkt gegenüber dem Bahnhof. Auch viele Familienunternehmen, Autozulieferer und Maschinenbauer sitzen und produzieren im Itzttal. Verkehrstechnisch saß man hier lange in der Sackgasse.
Tessmer: "Nach dem zweiten Weltkrieg war Coburg ja von drei Himmelsrichtungen umzingelt von der innerdeutschen Grenze. Coburg war in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verkehrsmäßig abgehängt. Also wenn man zum Beispiel in Richtung Kassel oder Hannover fahren wollte, musste man die Rhön überwinden, da war man erst mal fast zwei Stunden unterwegs, bevor man eine Autobahn gesehen hat, das hat sich glücklicherweise verbessert."

Neue Brücken und Straßen

Inzwischen streift auch die Autobahn Coburg, die sich vom thüringischen Suhl in Richtung Nürnberg schlängelt. Teilweise verläuft sie parallel zur ICE-Strecke. Und teilweise wurden die Brücken für Bahn und Straße gleichzeitig gebaut.
Norbert Tessmer: "Da hat man damals eine Brücke gebaut bei Rödental, die hat man eben gleich mitgebaut, um die bautechnische Infrastruktur mit zu nutzen, die dann im Volksmund als Soda-Brücke verspottet wurde..."
Eine Brücke, die einfach nur so da war. Ohne dass ein Zug drüber fuhr. Von der Neubaustrecke fehlte damals noch jede Spur.
"Wobei der Bau durchaus nachvollziehbar war, es hat halt keiner verstanden, dass die über zehn Jahre dagestanden ist und ist nicht benutzt worden."
Jetzt aber sind die Gleise auch auf der Soda-Brücke verlegt – und auch eine Abzweigung nach Coburg haben sie gebaut. Theoretisch könnten die ICEs hier jetzt abbiegen und halten.
Norbert Tessmer: "Wir haben drei ICE-Anschlüsse pro Tag in jede Richtung. Richtung München, Richtung Berlin, was die Fahrzeit natürlich erheblich verkürzt..."
Aber eben nur dreimal pro Tag. Alle anderen ICEs rasen erstmal vorbei an Coburg. An seinem prachtvollen Schlosspark, seiner herrschaftlichen Veste – und seinen florierenden mittelständischen Firmen, die sich rund um die Stadt ausbreiten.
Friedrich Herdan: "Wir fordern von der Bahn nach wie vor den Zwei-Stunden-Halt. Allenfalls wollten wir zurückgehen auf die Halte, die in Lichtenfels entfallen sind. Also, die möchten wir schon alle haben, diese elf Halte."

Friedrich Herdan ist mittelständischer Unternehmer und Chef der Industrie- und Handwerkskammer Coburg. Und bisher hatte man im benachbarten Lichtenfels immerhin alle zwei Stunden den ICE-Anschluss. So gesehen verliert die Region Halte. Die Bahn beschwichtigt. Künftig könne man mit einem sehr schnellen Regionalexpress ins 45 Kilometer südlich gelegene Bamberg fahren und dann umsteigen. Auch damit seien die Coburger noch eine Stunde schneller in Berlin als früher. Mehr ICE in der Provinz gebe die Nachfrage nicht her. Klaus-Dieter Josel von der Bahn.
Die ICE-Neubaustrecke mit der Itztalbrücke
Die ICE-Neubaustrecke mit der Itztalbrücke bei Coburg. Von Einheimischen bisher auch die "Soda-Brücke" genannt.© picture alliance/dpa/Foto: Martin Schutt
"Die alte Strecke des ICE profitierte davon, dass die Reisenden, die hauptsächlich aus München und Nürnberg kommen, dann über diese Strecke gefahren sind. Aber die wenigsten – das muss man so offen sagen – wollten dann nach Lichtenfels oder nach Kronach oder nach Jena, sondern das Hauptziel war dann Leipzig oder Berlin…"
Auch die geschäftstüchtigen Coburger verstehen das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Damit es sich künftig auch für die Bahn lohnt, ihre ICEs hier abzubremsen, appelliert die Wirtschaft an das lokalpatriotische Gewissen der Bürger.
Friedrich Herdan: "Wir haben auch eine Forderung an die Geschäftsreisenden, das heißt an unsere Firmen, die Touristen, die Familien, die hier ansässig sind, dass sie möglichst intensiv das Bahnangebot nutzen. Da wollen wir auch werbend uns dafür einsetzen."
Eine Anschubkampagne also. Eine Umfrage auf dem Coburger Marktplatz zeigt, wie gut sie fruchtet.
Autor: "Freuen Sie sich schon auf den ICE?"
Frau: "Nee, weil ich eigentlich mit dem Auto unterwegs bin. Da brauche ich keinen ICE."
Mann: "Ich mach die erste Fahrt mit – am 10. Nach Erfurt zum Weihnachtsmarkt. Ja, ich freue mich freilich drauf. Ich werde nicht so oft fahren, einmal im Jahr vielleicht. Müssen halt mehr Leute fahren, sonst wird’s schwierig mit dem Halt."
Die Dame, die vor dem Firmensitz von HUK-Coburg ihre Raucherpause macht, hat auch schon konkrete Pläne.
"Meine Tochter lebt in München und da fahre ich natürlich sehr gerne hin. Und die beste Verbindung waren zwei Stunden und… glaube, zwei zwanzig. Ich steige hier entspannt ein, freu´ mich und steige dort entspannt aus. Schön, ne?"

Interessierte Bahnkunden wären also zu finden. Nur der Bahnhof gegenüber lässt noch wenig von der Vorfreude auf den schnellen Zug erahnen. Immerhin, ein Bahnsteig wurde in letzter Minute ICE-gerecht verlängert und erhöht. Dem regelmäßigen Halt von ICEs dürfte noch ein anderes Problem entgegenstehen. Und zwar ein technisches. Das lässt man sich am besten von Burkhard Eßig beschreiben. Der regionale Experte des Fahrgastverbands Pro Bahn steht zwischen Feldern und Lagerhallen an der Einschleifung Coburg Süd, so nennen Fachleute den Abzweig von der Neubaustrecke.
Bahnhof in Coburg 
Bahnhof Coburg Ende November© Deutschlandfunk Kultur / Tobias Krone
"Es handelt sich hier um den ICE 3. Der ICE 3 ist Anfang 2000 auf den deutschen Markt gekommen. Dieser Zug hat eine so genannte Wirbelstrombremse. Und die Wirbelstrombremse – hat man damals schon erkannt – hat die Eigenart, die Leitungssicherungstechnik, das heißt, bei Signal- und Weichenstörungen hervorzurufen, wenn man nicht dementsprechend die Strecke so umrüstet. Was technisch möglich ist, man hat das ja auch auf anderen Strecken, wo der ICE 3 fährt, so schon getan. Im Bereich Coburg hat man das leider versäumt. Ich kann das nicht verstehen. Aus welchem Grund die Deutsche Bahn AG hier nicht in der Lage war, momentan diese zwölf Kilometer zu ertüchtigen, dass auch der ICE 3 hier reinfahren kann, erschließt sich mir nicht."
Die Bahn will nun nachbessern.
"Da sind wir dran, da kann ich Ihnen aber momentan noch keinen verbindlichen Zeitplan nennen, aber hier wird intensiv diskutiert, dass der ICE 3 in ausgewählten Zeitlagen auch den Coburger Hauptbahnhof anfahren kann."
Während Europas einstige heimliche Hauptstadt davon träumt, wirbelstromertüchtigt auch den schnellen ICE-Sprinter zu empfangen, ist man in den Großstädten München und Nürnberg wohl froh, dass die Züge auf dem pfeilschnellen Weg nach Nordosten nicht mehr allzu oft anhalten. Wie der Pendler Christoph Frank.
"Ob ich mal in Coburg aussteige und mir Coburg anschaue, das habe ich mir jetzt noch nicht überlegt, weil wiegesagt primär das Ziel momentan für mich ist, schnell von A nach B zu kommen."
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