Clemens Schittko: "Ein ganz normales Buch"

Mit radikaler Lyrik gegen das System

Eine Bildcombo zeigt das Buchcover von "Ein ganz normales Buch" von Clemens Schittko vor dem Foto eines Protestplakats an einem Balkon
"Ein ganz normales Buch" von Clemens Schittko: Lyrik eines radikalen Selbstentblößers. © Freiraum-Verlag / dpa / Paul Zinken
Von André Hatting · 04.02.2017
Clemens Schittko streckt der Welt den Mittelfinger entgegen: Im Gedichtband "Ein ganz normales Buch" klagt er den Kapitalismus als Grundübel der Menschheit an. Seine Texte sind frei von Metaphern. Er poltert lieber mit der Kunst der Übertreibung.
"es ist genug
es reicht jetzt
es widert mich nur noch an
immer wieder dieses Gerede von Sparmaßnahmen und Sparpaketen
von Stabilisierungen und Strukturreformen
von Störfällen Synergie-Effekten Säumniszuschlägen und Tarifpartnern"
Klar, direkt und auf den Punkt – Clemens Schittko streckt der Welt den Mittelfinger entgegen: Der Literaturbetrieb, die Massenmedien, Politiker, und immer wieder das "Schweinesystem", der Kapitalismus als Grundübel der Menschheit, Schittko klagt sie alle an. Bilder, Vergleiche, Metaphern oder ähnlich Erprobtes aus dem Bausatz der Dichtkunst braucht er dafür nicht. "Durch Metaphern werden lediglich Aussagen entschärft, verwässert", schreibt der Autor in seinen poetologischen Skizzen, und er will nun mal das Konzentrat.
Clemens Schittko aus Ostberlin, Jahrgang 1978, nennt sich Schriftsteller, um nicht "als Arbeitsloser bezeichnet zu werden", grenzt sich nach oben ab, weil er unter sich "nichts und niemanden mehr" wähnt und wundert sich, "wie wenige Autoren, / die von Hartz IV leben, / tatsächlich über Hartz IV schreiben." Schittko tut es. Seine Lyrik ist die eines radikalen Selbstentblößers.

Mit der Kunst der Übertreibung

Das wäre nicht unbedingt interessant, Wutbürgertexte haben Konjunktur, ob nun mit oder ohne Verssprung. Aber Schittkos Gepolter hat Methode. Zum einen die der Übertreibungskunst, wie wir sie von Thomas Bernhards Prosa kennen. Dieses Bathos (sic!) führt dazu, dass wir sein "Ganz normales Buch" stellenweise ironisch lesen. Zum anderen pflegt Schittko das gezielte Aus-der-Rolle-Fallen. Das wirkt umso witziger, je weniger wir es erwarten:
"ich bin ein Mensch,
der sagt,
dass ihn Politik nicht interessiert
so einfach ist das
und an dieser Stelle könnte das Gedicht auch schon zu Ende sein
doch an dieser Stelle ist das Gedicht noch nicht zu Ende
denn es hat ja gerade erst angefangen."
Gern verfremdet Schittko auch Reden und andere offizielle Verlautbarungen. Sein "Germanifesto" zum Beispiel negiert Satz für Satz das Grundgesetz. Je weiter man sich durch die zitierten ersten 19 Artikel liest, desto nachdenklicher wird man: "Nicht alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. / Männer und Frauen sind nicht gleichberechtigt."

Rasseln mit der Assoziationskette

Im Gedicht "WARUM?" antwortet er fünf Seiten lang auf eine nicht ausformulierte, aber offenkundige Frage und kommt dabei vom Flugzeugabsturz der Germanwings-Maschine über den menschlichen Stoffwechsel schließlich zu unserer Angst vor Veränderungen – ein faszinierendes Rasseln mit der Assoziationskette.
Clemens Schittko hat etwas zu sagen. Das tut er laut und manchmal etwas langatmig, aber immer mit vollem Risiko. Das macht diesen Band sympathisch und unterscheidet ihn von vielen bild- und metaphernreichen Belanglosigkeiten aus den Literaturinstituten.

Clemens Schittko: Ein ganz normales Buch
Freiraum-Verlag, Greifswald 2016
128 Seiten, 14,95 Euro

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