Claire Denis über "Un Beau Soleil Intérieur"

Eine sexy Frau und jede Menge Neurosen

Die französische Regisseurin Claire Denis
Die französische Regisseurin Claire Denis © dpa / Asatur Yesayants
Moderation: Patrick Wellinski und Susanne Burg · 24.06.2017
Als "eine Art Reise in die Weiblichkeit" schildert Regisseurin Claire Denis ihre Arbeit an "Un Beau Soleil Intérieur": eine romantische Komödie, mit der das Filmfest in München eröffnet wurde. Juliette Binoche spielt darin eine Künstlerin auf der Suche nach der großen Liebe.
Anmoderation Patrick Wellinski: Es ist das erste Mal, dass Regisseurin Claire Denis mit der französischen Schriftstellerin Christine Angot zusammenarbeitet, die in ihren Romanen oft sehr schockierend und schonungslos persönliche Erlebnisse verarbeitet – wie die inzestuöse Beziehung mit ihrem Vater. In Frankreich ist Angot umstritten.
Da wir gestern die Möglichkeit hatten, Claire Denis zu treffen, wollten wir von ihr eingangs wissen, warum Sie ausgerechnet gemeinsam mit Christine Angot an einem Filmprojekt arbeiten wollte.
Claire Denis: Ich mag, wie sie schreibt. Sie gilt als Exhibitionistin, ja. Aber so viele männliche Schriftsteller sind Exhibitionisten. Und da heißt es dann, dass sie mutig sind und offen. Selbst wenn die Literatur schockiert. Als ich Christine Angot gelesen habe, ist mir klar geworden, dass es bei ihr anders ist. Christine ist sehr ehrlich und emotional. Und manchmal ist sie bei Interviews oder auch am Set so direkt und wahrhaftig, dass es auf manche aggressiv wirkt.
Was den Inzest angeht, ist es ein antikes Tabu. Die Menschen haben sich dadurch selbst geschützt, nicht zu viel gleiches Blut in der Familie, Sie wissen, was ich meine… In der Bibel oder Ödipus – schon da existiert es. Und plötzlich schreibt eine Frau darüber. Und sie schreibt gut. Wenn es schlecht wäre, wäre es nicht so ein großes Thema.

Eine weibliche Version der "Fragmente einer Sprache der Liebe"

Wellinski: Im Kern ist "Un Beau Soleil Interieur" die Verfilmung von Roland Barthes' sehr populärem Buch "Fragmente einer Sprache der Liebe".
Denis: Nein, nein, nein. Überhaupt nicht. Der Produzent hatte die Rechte an dem Buch gekauft und mich gefragt, ob ich bei einem Projekt mit mehreren Regisseuren zusammen mitmachen wollte. Und ich sagte: eher nicht. Mit verschiedenen Regisseuren zusammen, das konnte ich mir nicht vorstellen.
Die Fragmente waren für mich, als ich jünger war, so wichtig. Ich habe so häufig beim Lesen geweint, ich habe noch das Buch, in dem lauter Flecken sind und lauter Notizen. Ich habe stattdessen mit Christine unsere eigene weibliche Version der Fragmente erarbeitet, und der Produzent hatte Angst, dass es Ärger wegen der Rechte gibt und hat das Drehbuch an die Leute geschickt, die die Rechte an Roland Barthes besitzen. Und sie haben gesagt: Nein, das hat absolut nichts mit Roland Barthes zu tun. Das hieß: Wir waren frei. Jetzt sind es unsere Fragmente.
Wellinski: Wie ist dann die Idee dazu entstanden, die Geschichte einer Frau um die 50 zu erzählen, einer Künstlerin, die versucht, sich zu verlieben, so wie sie es sich vorstellt?

Denis: Der Begriff um die 50… hm ... Ich habe Juliette Binoche ausgesucht und es war für mich eine Art Reise in die Weiblichkeit. Juliette war für mich keine Frau um die 50, wie sie in einer Zeitschrift beschrieben wird. Für mich war sie eine dunkelhaarige Frau mit einer sehr weichen Haut und einem üppigen Körper. Und ich wollte das zeigen.
Sie ist sexy. Sexy zu sein, ist heute nicht mehr wirklich angesagt, außer wenn man zu einer Gala geht. Im Alltag hat es keinen Platz. Und ich wollte die Figur anders anlegen. Hier, schauen Sie sich das Gemälde an der Wand an, eine Frau mit einem tiefen Dekolleté. Man würde nicht sagen, dass das eine ehrenwerte Frau ist. Und ich habe zu Juliette gesagt: Lass es uns so machen. Ich habe nie gedacht, das ist eine Frau um die 50. Ich habe immer gedacht: Sie hat eine Vergangenheit. Sie hatte Erfolg, ist unabhängig, aber sehnt sich nach echter Liebe.

"Sie flößt den Männern Angst ein"

Susanne Burg: Und sie trifft ja eine Menge Männer, aber es funktioniert nie so richtig. Was passiert da? Warum steht sie sich immer selbst im Weg? Denn sie ist es letztendlich, die eine Beziehung unmöglich macht.
Denis: Ja, sie flößt den Männern Angst ein. Beim ersten Mann, dem Banker, weiß sie, dass die Beziehung schrecklich ist. Der Spaß ist vorbei, deswegen braucht sie ihn nicht mehr. Den zweiten Mann, den Schauspieler, hat sie im Theater kennengelernt. Sie ist verliebt wie eine junge Frau, aber sie sagt ihm: Wenn du es nicht so willst wie ich, dann lass es uns beenden. Sie ist eben sehr kompliziert.
Wellinski: Der Film hat so eine Leichtigkeit. Wie sie mit den Männern spricht und die Männer mit ihr sprechen. Einige sagen, es ist die erste Komödie, die Claire Denis gemacht hat. Ist das einfach so passiert oder war das so angelegt?
Denis: Oh nein, überhaupt nicht. Ich wünschte, ich könnte das einfach so angehen. Ich mag, wie Christine Angot arbeitet. Sie liest die Dialoge laut vor. Wir haben viel im Café gearbeitet und ich musste so häufig lachen. Ich habe Juliette nie gesagt: Das ist eine Komödie. Aber so wie ich die Männer um sie herum gecastet habe, entstand eine Komödie. Weil ich Männer mit komödiantischem Gespür gecastet habe. Und natürlich hat Juliette das sofort verstanden.
Burg: Das heißt, das war nie ein Thema?
Denis: Nein, ich habe ihr nie gesagt: Sei lustig. Ich wusste, dass die Situationen komisch waren. Und besonders am Ende, wenn Gérard Depardieu auftaucht. Sie ist gefangen in einer komischen Situation, aber sie macht das brillant.

"Wahrscheinlich haben wir beide genügend Neurosen"

Burg: Ich mochte sehr, dass Sie die ganzen Neurosen von ihrer Figur, Isabelle, sichtbar machen. Alle Ängste zeigen sich auf der Leinwand. Und es ist fast so, als würden die Zuschauer dabei in einen Spiegel gucken. Wir können es nachvollziehen. Wir kennen das alles. War das beabsichtig oder ein Nebeneffekt?
Denis: Ganz ehrlich: Ich war so beschäftigt mit dem Film. Christine und ich haben am Drehbuch gearbeitet, und wahrscheinlich haben wir beide genügend Neurosen, dass die einfach eingeflossen sind. Das einzige, was ich bewusst wollte, war: Als ich beschlossen hatte, dass Gérard Depardieu am Ende auftauchen soll, wollte ich fair sein und fand es wichtig, dass er auch eine Affäre hat, die ein Desaster war.
Wellinski: Er spielt so brillant. Können Sie erklären, warum Sie an ihn gedacht haben für das Ende?

Denis: Ich wollte, dass Juliette immer das Gefühl hat, dass alle Männer um sie herum stark genug sind, dass sie nicht in einen Wettbewerb mit ihr treten. Und Gérard war für mich der einzige Schauspieler, von dem ich wusste, dass er sowohl etwas Bedrohliches mitbringt als auch eine große Zärtlichkeit. Er hat beides in sich. In ihm steckt der Schmerz des Lebens. Er zeigt es nicht, aber man kann es fühlen. So wie er spricht, die Wörter betont. Er hat auf der Bühne angefangen – und das merkt man.

"Die Stadt muss mir dienen im Film"

Wellinski: Der ganze Film ist sehr zärtlich. Sie haben wieder mit Angès Godard als Kamerafrau gearbeitet. Wie haben Sie mit ihr zusammen die visuellen Codes des Filmes erarbeitet?
Denis: Die visuellen Codes: Wir haben digital gefilmt, schnell. Wir hatten nur fünf Wochen Drehzeit. Und ich wollte, dass der Film vom Format her eher quadratisch ist, nicht rechteckig. Juliette Binoche ist eine starke Frau, aber ich wollte, dass es so aussieht, als ob sie nicht genügend Platz hat. Und ich wollte Einfachheit. Das einzige, was ich Agnes gesagt habe - und das war im Endeffekt das schwierigste: Ich wollte, dass Juliette blass und weiß aussieht und nicht dieses goldene Gelb hat, dass heute überall so dominiert und die Menschen so perfekt aussehen lässt. Sie sollte blass aussehen und dunkelhaarig.
Burg: Der Film ist sehr dran an den Menschen, aber er spielt ja in Paris. Und Paris im Film hat eine lange Geschichte. Es gibt dieses Poster-Image von Paris. Wie wollten Sie Paris darstellen?
Denis: Ich benutze Paris immer, wie es für die Geschichte passt. Als einen Ort, in dem ein Serienmörder lebt, als Ort für einen Splatterfilm. Wo der ideale Vater einer Tochter wohnt. Die Stadt muss mir dienen im Film. Ich kenne Paris gut. Es gibt zum Beispiel neben einem Theater einen Platz: Gambetta. Der ist hässlich. Aber ich mag das Theater. Ich gehe da oft hin. Und so ist mir der Ort ans Herz gewachsen und hat es so auch in den Film geschafft.
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