Chronik einer Revolution

"Ein ganz neuer Klemperer"

Der Romanist und Philologe Victor Klemperer in einer zeitgenössischen Aufnahme. Er wurde am 9. Oktober 1881 in Landsberg (Warthe) geboren und ist am 11. Februar 1960 in Dresden gestorben.
Der Romanist und Philologe Victor Klemperer (1881−1960) © picture alliance / dpa / Fotoreport Aufbau Verlag
Nele Holdack im Gespräch mit Ute Welty · 04.07.2015
Im Aufbau-Verlag erscheinen bisher unbekannte Aufzeichnungen Victor Klemperers aus der Zeit der Münchner Räterepublik 1918/19. Es zeigt den Literaturwissenschaftler Klemperer in ungeahnter Unmittelbarkeit und Direktheit, sagt die Lektorin Nele Holdack − und als Zeitungsreporter.
Die posthum veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen des Romanisten Victor Klemperer "Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945" gehören zu den bedeutendsten literarischen Zeugnissen des NS-Terrors. Die überarbeitete Neuauflage erscheint im Juli im Aufbau-Verlag. Außerdem erscheint ebenfalls im Aufbau-Verlag ein bisher nie veröffentlichtes Revolutionstagebuch Victor Klemperers aus der Zeit der Münchner Räterepublik 1918/19. Leser lernen einen anderen Klemperer von "ungeahnter Unmittelbarkeit" kennen, berichtet die verantwortliche Lektorin, Nele Holdack.
"Es ist schon ein anderer Klemperer. Ich habe als erstes die Berichte gelesen, die er 1919 tatsächlich geschrieben hat unter dem schönen Pseudonym AB-Mitarbeiter. Das stand für Anti Bavaricus. Er hat diese Texte unmittelbar aus dem besetzten München heraus für die Leipziger Neusten Nachrichten verfasst. Und ich war völlig begeistert vor allem von dieser Unmittelbarkeit, die selbst bei Klemperer bislang unbekannt ist," sagte verantwortliche Lektorin Nele Holdack im Deutschlandradio Kultur. "Er spricht hier mit der Direktheit des engagierten und unabhängigen jungen Mannes, der selbst in Aufbruchsstimmung ist und der sich dann aus diesem einzigartigen Anlass als Journalist betätigt."
Kleine und enge Schrift
Über die schwierige Arbeit mit Klemperer-Original-Manuskripten sagte Holdack: "Die Manuskriptseiten sind ganz klein und eng beschrieben. (...) Vieles kann ich tatsächlich nicht lesen, weil es so klein ist und so eng und man muss sich da richtig reinarbeiten."
Die aktuelle Neuausgabe der Tagebücher 1933-45 sei aus Anlass des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges neu gesetzt und neu gestaltet worden: "Und vor allem ist natürlich schön, dass wir in dieser Ausgabe dank des Bearbeiters Christian Löser einige Lesefehler beheben konnten und einige Entschlüsselungen nachtragen. Und vor allem wurde auch in den Anmerkungen vieles nachgetragen, was in der Zwischenzeit nachgetragen ist. Zum Beispiel Schicksale von Juden aus dem Umfeld von Klemperer."
"Unglaublicher Fundus" wartet im Nachlass
Allein die Tagebücher 1933-45 umfassten 5.000 Manuskriptseiten, die in der Druckvariante leicht gekürzt seien. Für das aktuelle Projekt einer ungekürzten digitalen Gesamtausgabe würden gerade auch die restlichen Texte erfasst. Der Klemperer-Gesamtnachlass, der in der Sächsischen Landesbibliothek beheimatet ist, umfasse viele zehntausend Blatt Papier. "Ein unglaublicher Fundus, um den wir uns weiterhin bemühen werden", erklärte Holdack.
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Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Für Literaturfans und historisch Interessierte wird das eine lange Nacht, denn kurz nach Mitternacht beginnt Deutschlandradio Kultur mit Lesungen aus den Aufzeichnungen von Victor Klemperer. Dessen Tagebücher entwickeln sich nach ihrer Erstveröffentlichung Mitte der 90er-Jahre zum Bestseller, die aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 gelten inzwischen sogar als Standardwerke für den Deutsch- oder Geschichtsunterricht – und sie erscheinen Mitte des Monats als Neuauflage. Dafür zeichnet Nele Holdack im Aufbau Verlag als Lektorin verantwortlich. Guten Morgen!
Nele Holdack: Guten Morgen!
Welty: Was zeichnet diese Neuauflage aus? Was war Ihnen besonders wichtig?
Holdack: Also natürlich ist es keine vollständig neue Ausgabe. Wir haben aber tatsächlich dieses große Textkonvolut neu setzen lassen, neu gestalten lassen, jetzt auch aus Anlass 70 Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges. Und vor allem ist natürlich schön, dass wir in dieser Ausgabe dank des Bearbeiters Christian Löser einige Lesefehler beheben konnten, einige Entschlüsselungen, die man noch nun nachtragen konnte, einfügen konnten, und vor allem wurde auch in den Anmerkungen vieles nachgetragen, was in der Zwischenzeit recherchiert worden ist, vor allem zum Beispiel Schicksale von den Juden aus dem Umfeld von Klemperer.
Welty: Sie sagen, Lesefehler – es geht ja um Texte, die nicht oder nur sehr bedingt für eine Veröffentlichung bestimmt waren. Wie nähern Sie sich als Lektorin diesen Texten an?
Die Übertragung dieser Manuskripte ist eine unglaubliche Arbeit
Holdack: Also die Texterfassung wird von den Herausgebern natürlich vor allem übernommen. Das war dann in diesem Fall Walter Nowoisky vor allem. Der hat Ende der 70er-Jahre dieses Textkonvolut das erste Mal gesichtet und hat dann Anfang der 90er-Jahre – als klar war, was das für ein besonderes Dokument ist und dass der Aufbau Verlag sich zur Veröffentlichung entschieden hat – zusammen mit der Witwe von Victor Klemperer, Hartwig Klemperer, sich der Übertragung dieser Manuskripte angenommen. Und das ist eine unglaubliche Arbeit. Also diese Seiten, die Manuskriptseiten sind ganz eng und klein beschrieben, das war natürlich damals in Zeiten des Krieges gar nicht anders möglich. Vor allen Dingen mussten diese Aufzeichnungen immer versteckt werden vor der Gestapo. Wären sie der Gestapo in die Hände gefallen, hätte das natürlich nicht nur Victor Klemperer, sondern auch anderen das Leben kosten können.
Welty: Haben Sie die Originale mal in der Hand gehabt? Haben Sie das lesen können?
Holdack: Vieles kann ich tatsächlich nicht lesen, weil es so klein ist und so eng. Man muss sich da richtig reinarbeiten, und es war dann auch wirklich Hartwig Klemperer Expertin geworden darin und Christian Löser, der jetzt eine große digitale Gesamtausgabe verantwortet, ist da ein sehr guter Nachfolger geworden. Die Tagebücher umfassen insgesamt 5.000 Manuskriptseiten, das muss man sich mal vorstellen. Die sind natürlich in der Druckvariante leicht gekürzt. Es gibt aber auch jetzt das Projekt einer großen ungekürzten digitalen Gesamtausgabe, und dafür werden tatsächlich jetzt auch noch die restlichen Texte dann erfasst.
Welty: Was Sie über die Neuauflage hinaus auch vorbereiten ist das sogenannte Revolutionstagebuch, das sich auf die Zeit 1918, 1919 bezieht, da kehrt Victor Klemperer aus dem Ersten Weltkrieg heim und beleuchtet die Münchener Räterepublik. Ist das ein anderer Klemperer, der aus diesen Texten zu uns spricht?
Die Direktheit des engagierten, unabhängigen, jungen Mannes,
Holdack: Das ist schon ein anderer Klemperer. Ich habe als Erstes die Berichte gelesen, die er 1919 tatsächlich geschrieben hat unter dem schönen Pseudonym AB-Mitarbeiter, das stand für Anti Bavaricus, und er hat diese Texte unmittelbar aus dem besetzten München heraus für die „Leipziger Neuesten Nachrichten" verfasst. Und ich war völlig begeistert, vor allen Dingen von dieser Unmittelbarkeit, die selbst bei Klemperer bislang unbekannt ist. Also er spricht hier wirklich mit der Direktheit des engagierten, unabhängigen, jungen Mannes, der selbst in Aufbruchsstimmung ist und der sich dann aus diesem einzigartigen Anlass als politischer Journalist betätigt.
Welty: Sie kontrastieren ja dann den jungen öffentlichen Klemperer, der, wie gesagt, für Zeitungen schreibt, mit dem älteren und seinen persönlichen Aufzeichnungen. Welcher literarische Mehrwert hat sich daraus für Sie ergeben?
Holdack: Die Berichte, die Klemperer 1919 verfasste, sind zwangsläufig lückenhaft, weil er sie eben für die Zeitung und anlässlich bestimmter Tagesereignisse dann verfasst hat. Und dankenswerterweise schließt er diese Lücken dann für uns selber, indem er sich in seinen Erinnerungen noch einmal eben auch dieser Zeit annimmt, und dadurch verdichtet sich dieses Bild wirklich. Also er setzt andere Themenschwerpunkte und füllt wirklich die Lücken, die die Sicht auf die Tagesereignisse entstehen lassen.
Welty: Wenn ich Ihnen so zuhöre, dann habe ich den Eindruck: Das könnte nicht das letzte Klemperer-Projekt sein.
Ein unglaublicher Fundus liegt in der sächsischen Landesbibliothek
Holdack: Nein, ich hoffe nicht und glaube auch nicht. Es ist unglaublich. Der Nachlass Klemperers ist in der sächsischen Landesbibliothek beheimatet, sind viele zehntausend Blatt Papier, wie gesagt, selbst die Tagebücher 1933 bis 1945 umfassen schon 5.000 Blätter. Das ist also ein unglaublicher Fundus, um den wir uns weiterhin bemühen werden.
Welty: Neues von Victor Klemperer in Buchform demnächst im Aufbau Verlag und in der Verantwortung von Nele Holdack. Danke für den Besuch hier in „Studio 9"!
Holdack: Ich danke Ihnen!
Welty: Und wer Victor Klemperer weniger lesen denn hören will: Lesungen aus den Tagebüchern an allen Juliwochenenden in der Nacht von Samstag auf Sonntag hier in Deutschlandradio Kultur, los geht es heute Nacht um kurz nach Mitternacht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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