Christine And The Queens – "Chris"

Ein Gegenpol zur blutarmen Musik der Gegenwart

Neuer Pop von Christine And The Queens,
Christine And The Queens – ein Vorbild für Teenager, die nach einer sexuellen Identität abseits der Hetero-Norm suchen. © picture alliance / Photoshot
Von Marcel Anders  · 21.09.2018
Mit "Chaleur Humaine" gelang Christine And The Queens ein sensationeller Einstieg ins Musikgeschäft – ein Indie-Album, das 2016 die Charts stürmte. Jetzt legt die Französin nach: Auf ihrem Album "Chris" präsentiert sie sich nun mit neuem Sound.
"Chris ist eine mutigere Ausgabe von mir. Er steht dafür, dass sich in meinem Leben etwas verändert hat, dass ich durch das viele Touren stärker geworden bin – stärker als ich es je für möglich gehalten hätte. Und er lässt mich wie ein kleiner Macho aussehen. Was die Frage aufwirft, ob Männlichkeit und Weiblichkeit Konstrukte sind, die man einfach so aushebeln kann. Von dieser Frage bin ich geradezu besessen."

Ein internationaler Popstar

Aus der androgynen Professoren-Tochter aus Nantes ist ein internationaler Popstar geworden – ein Vorbild für Teenager, die nach einer sexuellen Identität abseits der Hetero-Norm suchen, und eine Muse der Modewelt. Anerkennung, die sie darin bestärkt, ihr bisheriges Ich abzustreifen und ein alter Ego namens Chris zu entwickeln. Das legt sie auch im Interview nicht ab: Die 30-Jährige präsentiert sich als quirliger Typ mit gegeltem Haar, offenem Hemd und Goldkettchen, der selbstbewusst, draufgängerisch und gerne provokant ist. Der offen über Orgasmen redet, seine Meinung zu Politik und Gesellschaft kundtut und nach neuen musikalischen Ausdrucksformen sucht.
"Der große Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Album besteht darin, dass das erste sehr verträumt und melancholisch war. Beim neuen ist dagegen etwas passiert – ich wurde zum Leben erweckt und verlange jetzt mehr. Ich bin aktiver und offener. Und die Stücke sind körperlicher, direkter, energetischer – mit jeder Menge Referenzen an die Zeit, als das Sampling eingeführt wurde. Als man dazu überging, verrückte Sounds mit einem minimalistischen, aber extrem aggressiven Groove zu kombinieren."
Das Album "Chris" erweist sich als regelrechte Hommage an die elektronische Popmusik der 80er. Mit Stücken, die einen starken Disco-, Funk- und R&B-Vibe aufweisen, mal an Chic, an Michael Jackson, Prince oder Madonna erinnern, sich betont tanzbar und melodramatisch geben, und genauso kommerziell wie experimentell wirken. Ein Retro-Sound, den die Künstlerin als Gegenpol zur blutarmen Musiklandschaft der Gegenwart versteht.

"Ich bin gerne ein bisschen freaky"

"Ich habe das Gefühl, dass es bei der heutigen Popmusik – gerade bei der extrem kommerziellen – nur noch um die Präsentation geht. Nach dem Motto: 'Lasst uns das so stumpf wie möglich gestalten, damit es wirklich jeder mag.' Was mich aber nicht wirklich anspricht. Mein Ansatz ist eher: Ich will mich nicht anbiedern oder anpassen, sondern ich bin gerne ein bisschen freaky."
Héloise Letissiert bezeichnet ihren Stil als Freak-Pop. Sie bezieht sich auf Musik-Legenden wie David Bowie, Lou Reed, die New York Dolls oder Grace Jones, die schon in den 70ern mit ihrer Androgynität kokettiert haben. Die schrille Klamotten trugen und sich betont theatralisch gaben. Die gegen das Engstirnige, Kleinbürgerliche rebellierten und zu mehr Offenheit und Empathie aufriefen. Da ist sie mindestens so engagiert wie beim Einreißen überholter Geschlechterrollen.
"Als sich Frankreich für die gleichgeschlechtliche Ehe entschied, ist die Homophobie im Land regelrecht explodiert. Das ist die Reaktion darauf, dass sich Dinge verändern. Und deshalb sollten Künstler nicht davor zurückschrecken, wichtige Themen aufzugreifen. Keine Ahnung, wie viel wir wirklich verändern können, aber zumindest können wir etwas anstoßen. Auch im Hinblick auf Flüchtlinge. Es kommen immer mehr Menschen zu uns. Und wir müssen sie willkommen heißen und ihnen helfen – statt ihnen vorzuwerfen, sie würden unser Wasser klauen. Das braucht jeder zum Leben. Genau wie Luft, Sonne, Licht. Es ist absurd."
Starke Worte eines Menschen, der seine Berufung, sein Seelenheil und seine Selbstverwirklichung in der Musik gefunden hat. Sich von der frustrierten Lehramtsanwärterin zum globalen Sprachrohr fürs Ausleben seiner Träume gemausert hat. Und mit "Chris" ein überzeugendes zweites Album vorlegt.
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