Christian Gerlach: "Der Mord an den europäischen Juden"

Der pragmatisch kalkulierte Holocaust

Buchcover "Der Mord an den europäischen Juden" von Christian Gerlach und der Nationalfriedhof der Gedenkstätte "Theresienstadt" im tschechischen Ort Terezin.
Christian Gerlach: "Die Studie beschreibt die Ermordung der Juden auch als Teil der massiven Gewalt gegen andere Gruppen" © picture alliance/dpa/Foto: Jens Wolf, Verlag C. H.Beck
Von Konstantin Sakkas · 20.05.2017
Die brutale Ausrottung von Millionen Juden war kein irrationaler Akt, mit dem sich die Nazis militärisch und diplomatisch selbst schadeten, so der Historiker Christian Gerlach in "Der Mord an den europäischen Juden". Sondern sie folgte auch einer kapitalistischen Kosten-Nutzen-Logik.
Christian Gerlach ist eine Autorität in der Holocaustforschung. Umso mehr Gewicht haben die Erkenntnisse, die er in seinem neuen Buch vorstellt: Danach war die Judenvernichtung nämlich keineswegs nur ein Akt nihilistischer Gewalt, wie man in Literatur und Öffentlichkeit immer noch hören kann. Im Gegenteil: die brutale Ausrottung von Millionen Juden, sogenannten Zigeunern, Behinderten, sowjetischen Kriegsgefangenen und anderen Opfergruppen war eng verknüpft mit der imperialistischen Expansions- und Ausbeutungsstrategie der Nationalsozialisten. Der Holocaust war kein irrationaler Akt, mit dem sich die Nazis militärisch und diplomatisch selbst schadeten, sondern pragmatisch kalkuliert.

"Deportationszüge hatten nicht, wie manchmal behauptet, höchste Priorität; diese lag bei militärischen Transporten. Wiederholt unterbrach oder verschob die Sicherheitspolizei die Deportation von Juden wegen Transportsperren, das heißt kurzfristiger Verbote nichtmilitärischen Zugverkehrs. Einige dieser Stopps fielen in die Zeit großer Deportationen aus dem Generalgouvernement, wie in der zweiten Junihälfte und der ersten Septemberhälfte 1942."

Rassismus der Nazis gehorchte einer zweckorientierten Logik

Der Rassismus der Nazis stand nicht etwa frei im Raum, sondern er gehorchte einer eiskalten utilitaristischen Logik, die sich wohl in den Methoden, in den Grundsätzen aber erstaunlich wenig von der postmodernen Biopolitik von heute unterscheidet, deren Hauptkategorien "Optimierung" und "Kosten-Nutzen-Relation" sind und die den Menschen völlig zum Objekt ökonomischer Strategien degradiert. Bei Gerlach stellt sich der Holocaust als gigantisches biopolitisches Squeezing-out von "Minderwertigen" und "unnützen Essern" dar: sie sollten "weg", weil sie dem militärischen und wirtschaftlichen Imperialismus Hitlerdeutschlands im Wege standen.
Hitlers Antisemitismus war nicht einfach "Hirngespinst", wie es der Historiker Joachim Fest einmal ausdrückte. Vielmehr war er ein barbarisches und höchst effizientes Instrument zur Durchsetzung seiner wirtschaftlichen und außenpolitischen Wachstums- und Expansionsziele. Dafür sprechen für Gerlach sowohl die theoretische Beliebigkeit im Umgang mit dem Rassebegriff, als auch Inkohärenzen in der Umsetzung des Völkermords.
"Unter Nazis und anderen Judengegnern gab es keine einheitliche, separate Denkweise namens Antisemitismus, die von allen anderen kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen getrennt gewesen und ihnen zuwidergelaufen wäre. Wenn antijüdische Gefühle als kultureller Code funktionierten, war ihre Essenz vielmehr die enge und untrennbare Verbindung mit dem, was Nazis und andere Judenhasser als die Realität ansahen. Dies zu erkennen, ist grundlegend, um zu verstehen, warum die Organisatoren und Ausführenden des Massenmords später die Gewalt gegen Juden mit politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Interessen verbunden sehen konnten."

Judenverfolgung hatte auch außenpolitische Dimension

Natürlich denkt man hierbei an Götz Aly und seine These von "Hitlers Volksstaat". Doch Gerlach geht einen Schritt weiter als Aly. Die Judenverfolgung brachte nicht nur sozialpolitische Benefits. Sie hatte auch eine ganz klar außenpolitische Dimension. Systematisch spielten die deutschen Besatzer die verschiedenen Opfergruppen in ganz Europa je nach Interessenlage gegeneinander aus.
So standen hinter der unter dem Namen "Aktion Reinhard" ablaufenden Massenvernichtung von Juden in Polen 1942 und 1943 unter anderem zwei pragmatische Erwägungen: zum einen gab es zu der Zeit einen Überhang an Arbeitskräften im so genannten Generalgouvernement; zum anderen sollten die freiwerdenden Essensrationen der ermordeten Juden an polnische Arbeiter umverteilt werden.
In diesem Kontext räumt Gerlach mit dem Mythos "Vernichtung durch Arbeit" auf, wonach die Zwangsarbeit in den Konzentrationslagern überwiegend wirtschaftlich sinnlos gewesen sei. Die Arbeitsbedingungen waren zwar tatsächlich brutal und tödlich; die Arbeit selber aber war ein essentieller Faktor der deutschen Kriegswirtschaft:
"Der häufig erwähnte Ausdruck ´Vernichtung durch Arbeit` betraf kein allgemeines Mordprogramm für Lagerinsassen oder für Juden. Er wurde zeitgenössisch nur auf die Verlegung von etwa 20.000 Insassen deutscher Gefängnisse (bestimmter Polen, Straftäter, Juden und anderer) in Konzentrationslager von April 1942 bis April 1943 angewandt."
Gerlach wird vielleicht geahnt haben, dass sein Buch in Deutschland für Unbehagen sorgen könnte. Womöglich auch deshalb hat er es zuerst auf Englisch verfasst. Im Schlusswort heißt es:
"Wenn ich pragmatische Antriebskräfte der Verfolgung ausführlicher besprochen habe als antijüdische Einstellungen, dann, weil ein Großteil der Literatur über die Vernichtung der Juden Erstere entweder von vornherein ablehnt oder ihnen nur sekundäre Bedeutung beimisst. Beides ist unhaltbar."

Gerlachs Buch hat es verdient, ein Standardwerk zu werden

Christian Gerlachs Buch hat es verdient, ein Standardwerk zu werden. Es steht in einer Reihe mit Mark Mazowers "Hitlers Empire" von 2008. Denn so wie Mazower den angeblich irrationalen Kriegskurs Hitlers in den Kontext deutscher Großmachtpläne einordnete, die weit im 19. Jahrhundert ihren Ursprung haben, so ordnet Gerlach den vermeintlich irrationalen Holocaust in ein System eiskalter und, ja: kapitalistischer Kosten-Nutzen-Logik ein.
Diese Einordnung ist übrigens nicht nur historisch interessant. Als eine heimliche Essenz des westlichen Liberalismus gilt ja mittlerweile der Sadomasochismus, der einerseits behauptet, "ja nur Spiel" zu sein, andererseits aber den Einzelnen zur ständigen Optimierung seiner Körperlichkeit und Wirtschaftlichkeit anpeitscht und ihn dauernd mit seiner vermeintlichen Minderwertigkeit konfrontiert. Genau diese totale Objektifizierung des Menschen ist Bedingung für "partizipatorische Gewalt", wie Gerlach es nennt, und sie weist auffällige Parallelen zur nationalsozialistischen Gewaltpolitik auf:
Dominanz und Unterwerfung sind kein Spiel, sondern sie dienen auf brutale Weise der Befestigung und Erweiterung konkreter machtpolitischer Strukturen, damals wie heute. Hitler – auch das sollte man aus Gerlachs Buch mitnehmen – hat mit beispielloser Bedenkenlosigkeit vorexerziert, wohin die Sadomasochisierung einer Gesellschaft im Extrem führen kann.

Christian Gerlach: "Der Mord an den europäischen Juden. Ursachen, Ereignisse, Dimensionen"
Aus dem Englischen von Martin Richter
Verlag C.H. Beck, 2017 München
576 Seiten, 34,95 Euro

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