Christ sein ohne Kirche – geht das?

Von Andreas Malessa · 23.10.2010
Tangotanzen und Tischtennisspielen geht kaum alleine. Warum aber Christsein auch nicht? Wenn es das Heil auch da gibt, wo keine Kirchenglocken mehr hinläuten, stellt sich zum Beispiel die Frage nach der göttlichen Autorisation.
Dass Christen als "Schäflein" bezeichnet werden - mal augenzwinkernd, mal herablassend – und das Kirchenvolk als "Herde", daran ist ihr Religionsstifter selber schuld.

Und Jesus sprach: Ich bin der gute Hirte. Ein guter Hirte setzt sein Leben für die Schafe ein. Ich kenne sie und sie kennen mich, genauso wie mich mein Vater kennt und ich ihn. Zu meiner Herde gehören auch Schafe, die jetzt noch in anderen Ställen sind. Auch sie muss ich herführen und sie werden meinen Ruf hören und dann wird es nur noch eine Herde und einen Hirten geben.

So steht's im Johannes-Evangelium Kapitel 10, bloß: Statt eine Herde unter dem einen Hirten zu werden, ist im Laufe von 2000 Jahren Kirchen-Spaltungs-Geschichte die Zahl der frommen "Ställe", der Konfessionen und Organisationen, in die Hunderte gegangen. Die Zahl der Kirchenaustritte in die Hunderttausende. Aus Frust über das Gezänk um den rechten Glauben. Oder weil man ihn sowieso lieber alleine praktizieren möchte, den Glauben. Christ sein ohne Kirche – geht das?

"Also jeder darf in einer liberalen Demokratie seine Religion pflegen, wie er mag. Das ist der erste Satz. Aber für mich als Theologen ist klar, dass unsere christliche Kirche darauf zielt, eine universelle ökumenische Gemeinschaft der Christinnen und Christen zu bilden. Obwohl wir uns so aufgetrennt haben in verschiedene Konfessionen. Dass es 'sinnvoll Christentum gelebt' nur in dieser Perspektive einer weltweit gelebten Gemeinschaft geben kann. Eben nicht fixiert nur auf meine regionale Gemeinschaft oder gar auf mein eigenes Ich."

Peter Bubmann aus Erlangen bei Nürnberg ist Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik. "Kein Christ kann weniger Geschwister haben, als der Vater im Himmel Kinder hat." Theoretisch stimmt dieser fromme Kalenderspruch. Wenn sich aber knapp 75 Prozent der Deutschen gegenüber der Bertelsmann-Stiftung als "religiös" bezeichnen, obwohl nur 60 Prozent einer Kirche angehören und wenn von diesen 60 Prozent bundesdurchschnittlich nur 4 Prozent sonntags in die Kirche gehen – dann muss es offenbar Millionen Menschen geben, die gut und gerne auch ohne Kirche Christen sein können, oder?

"Es ist die Frage nach dem Kirchenbegriff. Meint Kirche hier eine Institution des Rechts, eine äußerlich sichtbare Behörde sozusagen, oder meint Kirche den Gemeinschaftsverband derer, die sich im Glauben verbunden fühlen? Die verfasste Kirche als konfessionelle Gemeinschaft ist in ihrer geschichtlichen Gestalt nicht unbedingt notwendig, um christlichen Glauben zu leben. Was notwendig ist, ist ein Gemeinschaftsbezug. Ich kann mir christlichen Glauben nicht vorstellen, ohne dass ich ihn teile mit anderen Menschen."

Tangotanzen und Tischtennisspielen geht kaum alleine. Warum aber Christsein auch nicht?

"Ich meine es geht auf Dauer deshalb nicht, weil ich eine verlässliche Organisation der Weitergabe des Evangeliums brauche. Im christlichen Glauben wird der Andere, auch der ferne Andere, immer mitgedacht und muss mit berücksichtigt werden in diakonischer Hinsicht, aber auch in Hinsicht darauf, dass wir den Glauben teilen wollen in unserem Bekenntnis."

Ein alleine vor sich hinglaubender Mensch kann weder soziale Einrichtungen betreiben noch Kindergärten, Schulen und Universitäten unterhalten, das leuchtet ein. Der Glaube könne aber vor allem deshalb nicht als private Ansichtssache oder schlichte Seelen-Wellness praktiziert werden, meint Peter Bubmann, weil biblische Texte, wenn man sie denn ernst nimmt, weniger salbungsvolle Poesie als vielmehr soziale Beauftragungen sind, Marschbefehle der Nächstenliebe.

So wie unser Körper aus vielen Gliedmaßen besteht und diese Glieder einen Leib bilden, so besteht auch die Gemeinde Jesu Christi aus vielen Gliedern und ist doch ein Leib. Wir haben alle denselben Geist empfangen und gehören darum durch die Taufe zu dem einen Leib Christi.

So steht's im zwölften Kapitel des ersten Korintherbriefs und weil sie sich als der Leib des auferstandenen Christus auf Erden verstand, konnte die frühe katholische Kirche postulieren: "Extra Ecclesia Nulla Salus", außerhalb der Kirche kein Heil. Was heutzutage niemand mehr laut behauptet, auch wenn er's leise denkt.

Wenn es das Heil auch da gibt, wo keine Kirchenglocken mehr hinläuten, dann stellt sich die Frage nach der göttlichen Autorisation, der Legitimierung und Gültigkeit von Sakramenten: Könnte zum Beispiel – hoch lebe die Religionsfreiheit! – auch der Herr Müller der Frau Meier das Abendmahl reichen und die Beichte abnehmen? Im eigenen Wohnzimmer seiner selbst gegründeten Privatkirche mit Fantasienamen? Dazu Professor Peter Bubmann:

"Wenn ich als evangelischer Christ mich zu meiner Kirche halte, dann möchte ich ja, dass eine gewisse Markenqualität des Evangeliums beibehalten wird. Und deswegen brauchen wir Institutionen, die diese Markenqualität sichert. Die dafür sorgt, dass gut ausgebildete Pfarrer, Pfarrerinnen und andere Berufsgruppen dafür sorgen, dass das Evangelium so weitergegeben wird, dass es nicht verfälscht wird, dass es auf dem Stand heutigen Wissens verantwortet wird. Die Grundfrage lautet in beiden großen Konfessionen gleich, nämlich: Wie kann man die gute Botschaft des Evangeliums so weitergeben, dass sie nicht verloren geht?"

Das ist freundlich ausgedrückt und meint wohl: Kirche braucht eine "Lehrautorität", die den Eich-Strich und den Ur-Meter des christlichen Glaubens definiert und obskure Sekten oder selbst ernannte Gurus in die Schranken weist. "Inquisition" hieß diese Behörde in der katholischen Kirche. Die hat sich im Jahre 2000 zwar von ihrem verbrecherischem Terror im Mittelalter distanziert, im selben Jahr aber alle protestantischen Kirchen als "nicht Kirchen im eigentlichen Sinne" bezeichnet. Solcher katholischen Logik zufolge war sogar Martin Luther ein privater Solist des Glaubens: Fromm, aber kirchenfern.

Aus einem Verein kann man austreten, aus einer Familie nicht. Ob man sich peu a peu von ihr distanziert oder dramatisch mit ihr bricht: Indirekt bleibt sie einem identitätsstiftend erhalten, insofern als man sie zur eigenen Abgrenzung braucht, meint Professor Peter Bubmann:

"Viele Theologen sprachen ja davon, dass es so etwas wie 'anonymes Christentum' gibt, sagt Karl Rahner, dass es 'Lichter Gottes außerhalb des kirchlichen Lichts' gibt, sagt Karl Barth, aber alle diese Phänomene müssen ja irgendwoher sich auch orientieren und sagen, warum sie sich noch als christlich-religiös verstehen und da schauen sie in der Regel eben doch dann wieder auf die verfasste Kirche, um ihre eigene Identität – und sei es in Abgrenzung – zu markieren."
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