Chinas Sozialkredit-System

Auf dem Weg in die IT-Diktatur

26:22 Minuten
China vergibt Punkte für das Sozialverhalten seiner Bürger. Ohne eine positive Bewertung gibt es keine guten Jobs.
"Stopp, so darfst du dich nicht benehmen." Chinas Kontrolle über seine Bürger wird durch die Verknüpfung privater und staatlicher Datenbanken noch größer. © imago/ Zuma Press
05.09.2017
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Bis 2020 sollen alle privaten und staatlichen Datenbanken in China miteinander verbunden sein. Ziel der Kommunistischen Partei ist es, jegliches Verhalten zu erfassen, bewerten, belohnen oder zu sanktionieren. Pilotstädte der "braven" Bürger gibt es schon.
Rund, modern und gigantisch: Wie ein gestrandetes Raumschiff steht es da, das gläserne Bürgeramt der ostchinesischen Stadt Rongcheng.

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Zhang Jian ist an diesem Morgen gekommen, um seinen Sozialkredit-Punktestand zu erfragen. Der 42-Jährige füllt die Formulare aus und überreicht sie der Mitarbeiterin vom städtischen Amt für Sozialkredit-Management.
"Ich arbeite für eine öffentliche Behörde, für das Forstamt. Ich brauche eine Beurteilung für eine Beförderung – und dafür wiederum muss ich meinen Sozialkredit-Kontostand einholen. Wenn der nicht gut genug ist, werde ich auch nicht befördert. Aber ich mache mir da keine Sorgen. Ich achte auf mein Benehmen und mein Handeln. Ich sollte keine großen Abzüge haben."
Das Bürgeramt der ostchinesischen Stadt Rongcheng in der Frontansicht. Ein runder Bau mit viel Glas.
Das gläserne Bürgeramt der ostchinesischen Stadt Rongcheng.© Axel Dorloff
Bereits im Jahr 2014 hat die chinesische Küstenstadt Rongcheng damit begonnen, ein Sozialkredit-System einzuführen. Die Idee dahinter ist radikal und einfach: Der Staat sammelt so viele Daten wie möglich, trägt sie zusammen und wertet sie aus.

Arbeits- und Privatleben fließt in Kontostand ein

Jeder Bürger bekommt ein Punkte-Konto. Und auf dieser Grundlage kann der Staat dann bestrafen oder auch belohnen. Zhang Jian vom Forstamt weiß, worauf er im Alltag zu achten hat.
"Wenn ich bei Rot über die Ampel fahre, geht’s runter mit dem Kontostand. Wenn man sich in der Öffentlichkeit daneben benimmt, zum Beispiel in eine Schlägerei verwickelt ist, kommt man sofort auf die schwarze Liste. Auch meine Arbeit im Forstamt fließt in das Sozialkredit-System ein. Wenn die Bürger mit unserem Service nicht zufrieden sind, können sie sich beschweren. Das hat dann Auswirkungen auf meinen Punktestand."
Der Forstamt-Mitarbeiter Zhang Jian trägt ein weißes Hemd und steht im Bürgeramt, in dem viele Frauen an Computern sitzen.
Zhang Jian holt seinen Punktestand auf dem Bürgeramt ein.© Axel Dorloff
Die rund 670.000 Einwohner in Rongcheng müssen ihren Sozialkredit-Punktestand regelmäßig vorweisen: Für eine mögliche Beförderung beim Arbeitgeber, für die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Chinas, für die Beantragung eines Kredits bei der Bank. Nichts geht mehr ohne gute Bewertung. An Lin ist Sachbearbeiterin im Amt für Sozialkredit-Management. Bevor sie Zhang vom Forstamt das Blatt mit seinem Kontostand aushändigt, erklärt sie das Punktesystem.
"Der Punktestand ist anfangs für alle gleich, nämlich genau 1000. Diese Zahl erhöht sich dann mit der Zeit – oder wird niedriger. Die höchste Bewertung ist AAA. Dann geht es nach unten weiter mit AA und dann A und so weiter. Die schlechteste Bewertung ist D – da liegt man bei unter 599 Punkten."

Mit wenig Punkten gibt es Einschränkungen

Die mit einer A-Bewertung stehen auf der roten, die anderen auf der schwarzen Liste. Die auf der roten Liste werden bevorzugt behandelt: bei Zulassungen für Schulen, bei sozialen Leistungen oder auch beim Abschluss von Versicherungen. Die aus der C-Gruppe werden regelmäßig kontrolliert und bekommen bestimmte Einschränkungen. Wer in der untersten Klasse D auftaucht, qualifiziert nicht mehr für Führungspositionen, bekommt bestimmte Leistungen gestrichen und verliert seine Kreditwürdigkeit.
Alles Dinge, die dem 42-jährigen Zhang Jiang vorerst nicht drohen. Für ihn bleibt dieser Morgen ein guter Morgen. Sein Sozialkredit-Ergebnis: 1015 Punkte, eine Bewertung von A+. Er guckt auf seinen Zettel und strahlt.
"Hier, sehen Sie mal, dort habe ich ein paar Abzüge. Fünf insgesamt. Einmal, weil ich bei Rot über die Ampel gegangen bin. Aber hier: meine Leistung bei der Arbeit, dafür habe ich gleich 20 Pluspunkte gesammelt! Hätte ich ein B bekommen, würde es nichts werden mit der Beförderung. Beamte im öffentlichen Dienst, wie ich, brauchen mindestens ein A."
Auf einem A4-Zettel ist auf Chinesisch der Sozialkredit-Kontostand von Zhang Jian zu sehen.
Der ausgedruckte Sozialkredit-Kontostand von Zhang Jian.© Axel Dorloff
In Rongcheng sind es mehr als 50 Stellen der öffentlichen Verwaltung und andere Institutionen, die für das Sozialkredit-System Informationen über ihre Bürger senden. Familienstand, Strafregister, Verkehrsdelikte, Kredithistorie, Informationen der Finanzbehörden und der Sozialkassen. Oder auch Informationen aus Mobilfunk-Verträgen bei den staatlichen Telekommunikationsunternehmen. Der chinesische Software-Riese Kingdee hat eine Plattform entwickelt, über die die Daten gesammelt und ausgewertet werden. Die Datenmenge, die der Staat über seine Bürger zusammen trägt, ist riesig.

Die Anhänger des Sozialkredit-Systems

Einer der wichtigsten Strategen hinter Chinas Sozialkreditsystem ist Zhang Zheng. Er ist Wirtschafts-Professor an der renommierten Peking Universität. Der Campus der besten Hochschule im Land liegt im Nordwesten der chinesischen Hauptstadt. Wirtschafts-Professor Zhang leitet die Forschungsstelle für Chinas Sozialkreditsystem. Für Zhang ist dieses System ein künftiger Grundpfeiler für die moralische Ordnung der chinesischen Gesellschaft.
"Es ist ein System für beide – für die Unternehmen und für die einzelnen Bürger. Nur ein Beispiel: Wenn ein junger Mensch heiraten möchte und die Eltern sich über den ausgesuchten Partner unklar sind, können sie dessen Punktestand im Sozialkredit-System erfragen. Es gibt Heirats-Vermittlungen, die das bereits nutzen. Welche Informationen über die Bürger gesammelt werden dürfen, das muss die Politik entscheiden. Ob es z.B. erfasst werden soll, ob man regelmäßig mit seinem Hund spazieren geht oder seine Eltern besucht – dazu gibt es bislang keine Vorgaben."
Bis zum Jahr 2020 soll im ganzen Land ein möglichst umfassendes, miteinander verzahntes System aufgebaut werden. Derzeit gibt es in China dutzende Pilotprojekte. Rongcheng war eine der ersten Städte, die sich damit befasst haben. Die Stadt gilt als erfolgreiches Vorzeigeprojekt, sagt Experte Zhang.
"Die Stadt Rongcheng hat sehr viel ausprobiert. Vieles mit Erfolg. In Rongcheng herrscht eine hervorragende Ordnung. Die Bewohner, das medizinische und wirtschaftliche Umfeld – alles sehr gut. Wir ziehen daraus den Schluss, dass das Sozialkreditsystem gut für die Atmosphäre in Wirtschaft und Gesellschaft ist."
Auch wenn vieles noch im Aufbau ist – China hat mit der Sanktionierung der Bürger bereits begonnen.
Der Oberste Gerichtshof führt seit 2013 eine so genannte Schwarze Liste von säumigen Schuldnern, Schwarzfahrern und anderen finanziellen Delinquenten. Wer seinen Kredit nicht zurückzahlt oder ohne Fahrticket fährt, wer sich im Umgang mit Geld etwas zu Schulden kommen lässt, der darf in China in vielen Fällen bereits nicht mehr mit dem Schnellzug oder mit dem Flugzeug reisen.
Allein im vergangenen Jahr wurde diese Strafe rund 6,7 Millionen Mal verhängt. Ticketverbote sind schnell umgesetzt – wurden aber bislang nur für den gesetzes- und regelwidrigen Umgang mit Geld ausgesprochen. Neu in Chinas Sozialkreditsystem ist nun, dass gesellschaftliches und moralisches Verhalten der Bürger in die Bewertung mit einfließt. Alle Informationen sollen perspektivisch ein großes Ganzes ergeben. Der gläserne Bürger, über den alles bekannt ist.

Die Verlierer des Sozialkredit-Systems

Ein System, dass seine Bürger für moralisch konformes Verhalten im Sinne der Kommunistischen Partei Chinas belohnt – und alles andere bestraft, so ein System kennt auch Verlierer.
Zu diesen Verlierern zählt sich Murong Xuecun. Er hat keinen guten Stand bei Chinas Behörden. Als Blogger, Romanautor und Dissident kritisiert er immer wieder das chinesische System der Zensur und die Unterdrückung der abweichenden Meinungen in der Volksrepublik. Im offiziellen China gilt er als Störfaktor. Und wenn man Murong Xuecun auf einen Espresso in einem Café in Peking trifft und zu den Themen Überwachung und soziale Kontrolle befragt, verfinstert sich sein Gesichtsausdruck. Für ihn ist klar: mit dem Sozialkreditsystem rüstet sich der autoritäre Staat China fürs digitale Zeitalter.
"Die chinesische Regierung will seine 1,4 Milliarden Bürger künftig besser und effizienter kontrollieren. Die Führung in Peking hat verstanden, dass die alten Werkzeuge der Kontrolle nicht mehr greifen: Aufenthalts-Registrierung, Polizei, Personenspitzel. Das reicht nicht im digitalen Zeitalter der sozialen Medien. Um das System der sozialen Kontrolle entsprechend weiter zu entwickeln, schafft der Staat ein Sozialkreditsystem. Es ist Teil einer totalitären Internet-Gesellschaft des 21. Jahrhunderts."

Private und staatliche Daten zusammen führen

Und eine völlig neue Form der sozialen Kontrolle. Es ist die digitale Weiterentwicklung des Spitzel- und Überwachungsstaates. Historisch hat das in China Tradition.
Schon unter Staatsgründer Mao Zedong gab es die so genannten Danweis, Arbeitereinheiten. Jeder in China war einer solchen Arbeitereinheit unterstellt. Und die Danweis haben die Bürger im Sinne der Regierung kontrolliert. Verfehlungen wurden dokumentiert und bestraft. Diese Form der sozialen Kontrolle wird nun in die digitale Zukunft gedacht. Und Menschen wie der Dissident und kritische Autor Murong Xuecun dürften es in solch einem Sozialkredit-System schwer haben.
"Am meisten Angst macht mir, dass auch Deine Kommentare im Internet Einfluss auf Deinen Sozialkredit haben werden. Bei Leuten wie mir, denen man schon viele Konten in den sozialen Medien gesperrt hat, besteht doch kein Zweifel: Wir gehören zu den großen Verlierern eines Sozialkreditsystems. Aber habe ich in China irgendwelche Möglichkeiten, was dagegen zu tun? Nein, ich habe keine Wahl."
Möglichst bis 2020 will China alle Datenbanken des Landes zusammen führen. Und dann sollen auch die großen Konzerne zuliefern. Chinas Internetriesen wie Alibaba oder Tencent haben anhand ihrer Kundendaten bereits eigene Kreditbewertungssysteme eingeführt. Die umfassen auch das Kauf- und Zahlverhalten der Kunden. Für den Sozialkredit soll möglichst alles mit einfließen in das chinesische System von Belohnung und Bestrafung, Schuld und Sühne.

Eine Tafel mit den Vorbildern des Dorfes

Zurück in der Küstenstadt Rongcheng. Vor 20 Jahren haben hier fast nur Kleinbauern gelebt, heute versucht sich die Stadt vor allem im Strand-Tourismus. Für das chinesische Sozialkredit-System ist es die wichtigste und – im Sinne der chinesischen Regierung – erfolgreichste Testregion.
Ein Blick auf den grauen Strand der chinesischen Ostküstenstadt Rongcheng.
Der Strand der chinesischen Ostküstenstadt Rongcheng.© Axel Dorloff
In einem Vorort von Rongcheng treffen wir die 37-jährige Sui Yuxiang in einem Restaurant. Es gibt Muscheln, gegrillten Aal und Fleischspieße. Sui Yuxiang ist in dem kleinen Stadtteil Fulushan zuständig für das Sozialkredit-System. Für sie bestehen keine Zweifel: die Moral der Menschen hat sich durch die soziale Kontrolle und Bewertung verbessert.
"Zu meinem Bereich gehören 260 Familien. Einmal im Monat gibt es einen neuen Sozialkredit- Punktestand, zum 25. jeden Monats. Wer anderen hilft oder sich engagiert, bekommt Zusatzpunkte, 5 Punkte oder 10. Und je mehr Punkte jemand hat, als desto ehrlicher gilt die Person. Die gesamte Atmosphäre hier ist besser geworden. Die Menschen sind aktiver und engagierter, die Qualität des Zusammenlebens hat sich verbessert."
An einer Hauswand im Dorf Fulushan hängt eine große Tafel. Dort sind Fotos der Menschen mit Vorbildcharakter abgebildet. Diejenigen Bewohner mit einem besonders guten Sozialkredit-Punktestand.
Eine rote Tafel mit vielen Punkteständen und Bildern von Dorfbewohnern in Fulushan.
Die Tafel in Fulushan mit dem Punktestand der "besten" Dorfbewohner.© Axel Dorloff
Als besonders integer und moralisch einwandfrei gilt danach Chen Shengzhang. Er lebt mit seiner Frau im Dorf Fulushan in einem einfachen Hofhaus, die beiden Kinder sind schon lange ausgezogen. Er hat die kleinen, roten Plaketten, die er als Belohnung für seinen guten Sozialkredit-Punktestand bekommen hat, über seinem Eingangstor aufgehängt.
"Wir haben das Sozialkredit-System in unserem Dorf nun schon seit einigen Jahren. Was immer wir auch tun, wir denken dabei an unsere Kreditpunkte. Wir unterstützen das Dorf, wo es geht. Wir machen sehr oft sauber und fegen die öffentlichen Flächen. Müll oder auch nur Gras vor die eigene Tür zu legen – das ist nicht erlaubt. Wenn einer diese Regeln nicht befolgt, gilt er als unehrlich. Wenn der Dorfvorsteher nach etwas verlangt, folgen wir. Wer alles sauber und in Ordnung hält, gilt als Vorbild."

Staatspräsident will "die harmonische Gesellschaft"

Die politische Führung in Peking will mit dem Sozialkreditsystem die Menschen zu moralisch einwandfreien Bürgern zu erziehen. Es soll dazu dienen, die Ordnung des Marktes und die Ordnung in der Gesellschaft zu verbessern. Im Sinne des Leitbildes von Chinas Staatspräsident Xi Jinping: der "harmonischen Gesellschaft". Kritiker Murong Xuecun hält das für absurd.
"China redet dauernd über die harmonische Gesellschaft. Aber die Harmonie, die Präsident Xi Jinping meint, unterscheidet sich von der Harmonie, wie sie Leute wie ich verstehen. Unter Harmonie versteht Präsident Xi eine strenge Ordnung, in der nur eine Stimme zugelassen ist und keine Opposition. Aber eine Gesellschaft, die so strikt von der Regierung kontrolliert wird, kann weder innovativ noch kreativ sein."
Es gibt Zweifel, ob es China wirklich gelingt, bis 2020 alle Informationen über die Bürger in einer Datenbank zusammenzuführen. Aber das Sozialkredit-Projekt der chinesischen Führung ist bislang in Größe und Ausmaß weltweit konkurrenzlos. Kein anderes Land treibt es so radikal voran, seine Bürger im digitalen Zeitalter sozial zu kontrollieren. Und dann zu bewerten, zu belohnen und zu bestrafen.
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