"Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit"

Von Martin Hartwig · 11.11.2010
Die DDR war, abgesehen von der relativ energiearmen und stinkenden Braunkohle, ein rohstoffarmes Land. Vor allem an Erdöl war für das devisenschwache Land schwer zu kommen. Das wollte die DDR-Führung Ende der 50er mit dem Erdölverarbeitungswerk Schwedt und ihrem Chemieprogramm ändern.
"Schwedt an der Oder. 3. November 1958. Schwere geländegängige Lastkraftwagen quälen sich mühsam durch den vom Regen aufgeweichten morastigen Boden. Immer wieder schwappt der Straßenkot unter den Rädern hervor und bespritzt die Vermessungstechniker, die in hohen Gummistiefeln nebenher stapfen und Zweige oder Bretter unter die mahlenden Reifen schieben."

Ein Land im Aufbruch, Normübererfüllung, Ernteschlachten, Fortschrittskämpfe und immer wieder die Jugend, die voranmarschiert - darum kreiste die Berichterstattung in der DDR Ende der 50er-Jahre. Das Ziel der Anstrengungen hatte der 5. Parteitag der SED vorgegeben: Innerhalb weniger Jahre sollte der Pro-Kopf-Verbrauch von Lebensmitteln und Konsumgütern das Niveau von Westdeutschland erreichen und sogar übertreffen.

"Kreischende Maschinensägen fressen sich ins weiche Kiefernholz. Die ersten Bäume fallen und es entsteht eine Schneise von zwei Kilometer Breite und vier Kilometer Länge."

13 Jahre nach Kriegsende war die wirtschaftliche Lücke zwischen Ost- und Westdeutschland noch nicht so groß, dass sie unüberbrückbar schien - schließlich hatte auch die DDR beträchtliche Wachstumsraten vorzuweisen, die Lebensmittelrationierung war zu Ende, die ersten PKW wurden produziert und selbst die Flüchtlingszahlen gingen zurück. In einem für die Konsumgüterindustrie besonders wichtigen Bereich waren die Defizite jedoch erheblich, wie selbst das "Neue Deutschland" einräumen musste.

"Obwohl wir in unserer Entwicklung das durchschnittliche Tempo der Weltentwicklung weit überschreiten, müssen wir feststellen, dass wir auf einigen wichtigen Gebieten der chemischen Produktion zurückgeblieben sind."

Die DDR-Chemie hatte schlechte Startbedingungen. Allein schon deshalb, weil der traditionelle Schwerpunkt dieser Industrie im Westen Deutschlands an Rhein und Ruhr lag. Zudem waren die Chemiestandorte, die im Osten lagen, besonders die Werke der mit den Nationalsozialisten verflochtenen I.G. Farben, stark von Demontagen durch die Sowjetunion betroffen. Deshalb hatte die Partei- und Staatsführung im Herbst 1958 auf einer Chemiekonferenz besondere Anstrengungen in diesem Sektor beschlossen. Die Losung lautete:

"Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit."

Das größte Problem beim Aufbau einer eigenständigen modernen Chemie war neben dem durch die Westflucht verursachten Mangel an qualifizierten Arbeitskräften der fehlende Zugang zu billigem Erdöl - dem wichtigsten Grundstoff der modernen Kunststoffchemie. Das sollte sich ändern. Zum Auftakt der Chemiekampagne hatten die Sowjetunion, Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei und die DDR den Bau eines über 5000 Kilometer langen Pipelinenetzes beschlossen, mit dem fortan Öl vom Südural aus in die so genannten sozialistischen Bruderländer gepumpt werden sollte. Das westliche Ende der Leitung lag in Schwedt, an der Grenze der DDR zu Polen. Dort sollte das Öl dann auch gleich weiter verarbeitet werden:

"Und wieder pfeift der Novemberwind kalt und feucht über die Landschaft. Er singt in den Hochspannungsleitungen. Die einstigen Knechte der Grafen, die ehemaligen Arbeitssklaven aus den Fabriken der Konzernherren. Sie bauen ihr neues eigenes großes Werk auf. Das Erdölverarbeitungswerk in Schwedt an der Oder. Das größte und modernste dieser Art in ganz Europa."

Die Dimensionen des Projektes waren in jeder Hinsicht gewaltig, und um den ehrgeizigen Zeitplan auch nur ansatzweise einhalten zu können, musste die FDJ immer wieder Jugendliche für Arbeitseinsätze bereitstellen. Ab 1964 wollte man in Schwedt jährlich vier Millionen Tonnen Rohöl verarbeiten - ein Volumen, das nach dem weiteren Ausbau des Werkes dann noch einmal verdoppelt werden sollte. Auch die Verwendung des Rohöls war bereits festgelegt: Ein Drittel sollte zu Kraftstoff für Motoren verarbeitet werden, ein Drittel in die Herstellung von Kunststoffen fließen und ein Drittel als Heizöl dienen. Obwohl der Bauzeitplan fast eingehalten wurde, blieb die reale Produktion stets hinter diesen Vorgaben zurück - vor allem, weil das billige Öl aus der Sowjetunion nach der Ölkrise in den 70er-Jahren auch für die "Bruderländer" nur zu Weltmarktpreisen zu haben war und die DDR wieder verstärkt auf die eigene Braunkohle setzen musste. Doch diese Probleme waren noch nicht absehbar, als am 11. November 1960 der Grundstein für den Volkseigenen Betrieb gelegt wurde:

"Und nun das traditionelle Zeremoniell."

"Und das werde ich tun mit der Losung der Chemie: Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit. Auf ihre Gesundheit auf die Gesundheit der hier Arbeitenden und auf das Gelingen des Baues. Zum Wohl."

Brot, Wohlstand und Schönheit brachte das Petrolchemische Kombinat, wie der Anlagenkomplex ab 1970 hieß, der DDR nicht. Doch immerhin versorgte es das Land leidlich gut mit Öl und Ölprodukten. Als Kraftstofflieferant spielt das 1991 privatisierte Unternehmen vor allem bei der Versorgung des Berliner Raums auch heute noch eine wichtige Rolle.