Che lebt

Von Alan Posener · 02.10.2007
Da war dieser Augenblick der Verstörung. Als ich die Bilder des deutschen Islamisten Daniel Martin S. betrachtete, wie er im blauen Gefangenenoverall aus dem BKA-Hubschrauber stieg, kam mir das Gesicht des Möchtegern-Terroristen bekannt vor. Woher nur? Und dann blätterte ich um und sah die Bilder vom Landesparteitag der sogenannten Linkspartei in Hessen und erkannte auf den T-Shirts der jungen Delegierten das zornige, nicht unschöne Gesicht wieder: Es war Che. Daniel Martin S. sieht aus wie Che Guevara.
Vor 40 Jahren wurde Che im Dschungel Boliviens erlegt wie ein räudiger Hund. Sein Mythos als Revolutionär ist ungebrochen. Wird man in vierzig Jahren auch T-Shirts mit dem Bildnis des Daniel Martin S. tragen? Wohl kaum. Man wird nicht einmal mehr den Namen des Djihadisten kennen.

Der RAF-Mythos war zu seiner Zeit nicht ohne Wirkung unter deutschen Intellektuellen, aber der Stern mit der Kalaschnikow verblasst zusehends. Fast auf den Tag genau zehn Jahre nach Guevaras Tod nahmen sich die Führungsgestalten der RAF in Stammheim das Leben. Sie hatten sich vom kubanischen Revolutionsexporteur inspirieren lassen, der dazu aufrief, "zwei, drei, viele Vietnam" zu schaffen.

Heute gehen Baader, Ensslin und Raspe nur noch als Gespenster um. Che lebt aber weiter. Warum?

Zunächst einmal, weil man das, was man über ihn wissen könnte, nicht wissen will. Man will nicht wissen, dass Che ein lupenreiner Stalinist war, der zum Entsetzen seiner damaligen sowjetischen Gastgeber darauf bestand, beim Moskau-Besuch Blumen auf das Grab des Massenmörders zu legen.

Man will nicht wissen, dass Che eine Art Kollektiv-Selbstmordattentäter war, der in der Raketenkrise um Kuba davon träumte, die Insel mit ihren Menschen "den Nuklearwaffen zu opfern, damit ihre Asche zur Grundlage einer neuen Gesellschaftsordnung" werde. Man will nicht wissen, dass Che mitgeholfen hat, Kuba in einen Polizeistaat zu verwandeln, wo Abweichler aller Art verfolgt werden, ob es sich um Schwule oder politische Dissidenten handelt.

Man will nicht wissen, dass Che wirtschaftspolitisch eine Niete war, der als Direktor der Zentralbank und Industrieminister Kuba in den Ruin und in die völlige Abhängigkeit vom Zuckerexport getrieben hat. Man will nicht wissen, wie viele Menschen Che Guevara für sein Projekt des Revolutionsexports geopfert hat - sei es im Kongo, sei es in Bolivien.

Über den konkreten Che Guevara also will man nichts wissen. Dafür bastelt man sich den mythischen Erlöser Che zusammen, der neben Bob Marley und Rudi Dutschke im Himmel der antiimperialistischen Heiligen wohnt, im Mund die Zigarre statt Marleys Joint, in der Hand das Gewehr statt Dutschkes Steine, mit beiden aber verbunden durch den frühen Tod. Marley hat aber wenigstens seine Musik hinterlassen, Dutschke den Ansatz einer Selbstkritik. Was hinterlässt Guevara? Zum Beispiel diese Gedanken:

"Es kommt nicht darauf an, wie viele Kilo Fleisch man isst, wie oft man an den Badestrand gehen oder was für importierte Luxusgüter man mit den gegenwärtigen Löhnen kaufen kann", schrieb Guevara in seinem Essay "Mensch und Sozialismus auf Kuba". Und weiter: "Es handelt sich darum, dass der Mensch sich innerlich reicher fühlt, weil die glorreiche Epoche, in der er lebt, eine Epoche des Opfers ist." Soweit Che.

Eine Epoche des Opfers. Osama bin Laden hätte es nicht anders formuliert. Josef Stalin und Mao Tse-tung auch nicht. Adolf Hitler auch nicht. Du bist nichts, dein Volk, deine Klasse, dein Gott ist alles. Der religiöse Wahn, Gottes Reich auf Erden zu errichten, fordert immer noch seinen blutigen Tribut. Unausrottbar scheint der Wunsch, sich über andere und ihre Konsumwünsche, ihre kleinen Freuden, ihre vermeintlich verdorbene Moral zu erheben im Namen der großen Idee und der von ihr geforderten großen Opfer.

Gleichzeitig zeigt Guevara, dass der Terror - denn darum ging es ihm - eben nicht von den Armen kommt, denen es sehr wohl um Fleisch, Importgüter und Urlaub am Strand geht, sondern von den Intellektuellen; oder vielmehr von der Idee des großen Opfers, die ihre Gehirne wie ein Virus immer wieder infiziert.

Das ist das Fashion Statement, das mit dem Guevara-T-Shirt gemacht wird: Ich bin anfällig für den Virus der radikalen Ablehnung eurer "entarteten" Kultur. Es handelt sich einerseits um eine Phase, die fast jeder Teenager durchmacht. Rock 'n 'Roll ist undenkbar ohne diese Geste der Revolte. Wer aber vom Virus angesteckt wird, bleibt ein Teenager. Aus dem "Rebel without a cause", aus dem ewigen James Dean, wird ein Rebell, der sich auf dem Supermarkt der Ideen die ideologische Waffe sucht, die das große Opfer rechtfertigt: Gestern den Marxismus, heute den Islamismus.

Es waren nicht nur die Gesichtszüge des deutschen Djihadisten, die mir bekannt vorkamen. Es waren seine Gedanken. Che lebt. Leider.


Alan Posener, 1949 in London geboren, aufgewachsen in London, Kuala Lumpur und Berlin, studierte Germanistik und Anglistik an der FU Berlin und der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitete anschließend im Schuldienst, dann als freier Autor und Übersetzer. Von 1999 bis 2004 war er Mitarbeiter der "Welt", zunächst als Autor, dann als Redakteur. Seit März 2004 ist er Kommentarchef der "Welt am Sonntag". Posener publizierte neben Schullektüren u.a. Rowohlt-Monographien über John Lennon, John F. Kennedy, Elvis Presley, William Shakespeare und Franklin D. Roosevelt, die "Duographie" Roosevelt-Stalin und den "Paare"-Band über John F. und Jacqueline Kennedy. Soeben erschien "Das Imperium der Zukunft. Warum Europa Weltmacht werden muss".