Chaotische Aufwärtskräfte des Lebens

25.06.2010
Stephan Thomes' als Hörbuch erschienener Debütroman ist eine fabelhaft geschriebene Geschichte über den Trübsinn. Und über die Aufwärtskräfte, die das Leben entwickelt - vor denen sogar der Trübsinnigste kapitulieren muss.
"Es ist in Sackgassen nicht besonders wichtig, wie schnell man vorankommt", resümiert Studienrat Thomas Weidmann seine letzten Jahre in dem hessischen Örtchen Bergenstadt. Aus der Karriere am Historischen Seminar in Berlin war nichts geworden. Aus seiner Beziehung mit Konstanze ebenfalls nicht. Da hatte er einfach klein beigegeben und war in seinen Geburtsort zurückgekehrt wie in einen schützenden Uterus.

Auch die zweite Hauptfigur aus Stephan Thomes Roman "Grenzgang", Kerstin Werner, lebt in Bergenstadt mit dem Gefühl, das Leben zu verpassen. Mit dem 16-jährigen Daniel und ihrer dementen Mutter wohnt sie in dem Haus, das ihr Mann, ein stadtbekannter Rechtsanwalt, vor Jahren verließ – um mit einer Jüngeren eine zweite Familie zu gründen. Die Schmach der Scheidung lastet schwer auf ihr. Daran kann auch Anita nichts ändern, die ihr stolz demonstriert, wie leicht es sein kann, neue Männer kennenzulernen.

"Kerstin hat ihre Freundin beobachtet, ihre flirtenden Blicke, die Mühelosigkeit ihres Charmes, während ihr selbst das Lächeln so langsam und unaufhaltsam aus dem Gesicht rutschte wie eine zu große Brille. Zwei Jahre nach der Scheidung und an nichts erinnert sie sich so gut wie an das nagende Gefühl, von allen in allem und um alles betrogen worden zu sein."

Der 44-jährige Lehrer Thomas Weidmann ist kein Mann lauter Gefühle. Eher einer, der seine Gleichmut kultiviert: Daniel, Kerstin Werners Sohn, macht Probleme in der Klasse – routiniert führt er die Gespräche, die nötig sind; seine Internetflirts entpuppen sich als bizarre Eintagsfliegen – er ist eben ein Verlierer, sagt er sich und: Immerhin haben sie für ein wenig Abwechslung gesorgt. In seinem Leben passiert nichts? Na und. Dann kann ihm auch nichts passieren.

"Vor ihm liegt ein Nachmittag ohne dringende Erledigungen und dennoch fehlt ihm die Muse, sich mit einem Buch auf den Balkon zu setzen und Seite für Seite die Zeit an sich vorbeizuwinken. Es ist irritierend, an etwas zu leiden, das keinen Schmerz verursacht. Es ist nichts und ähnelt nichts. Es ist einfach nur da … lässt sich nicht zu echter Verzweiflung anfachen und steigert sich nicht zur Wut, sondern bleibt, was es ist und wie es ist – keine Wolke am Himmel und trotzdem scheint die Sonne nicht."

Stephan Thomes Debütroman "Grenzgang" ist eine fabelhaft geschriebene Geschichte über den Trübsinn. Über das Leben, wo es grau scheint und kurz davor ist, die Schwelle zum Grauen zu überschreiten. Eine Geschichte, die selbst allerdings alles andere als Trübsinn verbreitet.

Das ist die große Kunst des 38-jährigen Stephan Thome. Sein Grau hat viele Schattierungen und er macht klar: Das Leben entwickelt mitunter chaotische Aufwärtskräfte, vor denen auch die Trübsinnigsten kapitulieren müssen. Zum Beispiel an "Grenzgang", dem Volksfest in Bergenstadt. Kerstin Werner und Thomas Weidmann nutzen es, um sich ein wenig Ablenkung zu verschaffen.

"Der Kuss glich einem Wühlen nach dem Grund ihres Tuns. Beharrlich aber ohne Hast. Warum küsse ich ihn, fragte sie sich und lies seine Zunge ein Stück weiter vor. Die Erektion, die sich gegen ihren Schoß drückte, überging sie wie einen wenig sachdienlichen Hinweis, maß mit den Händen die Breite seiner Schultern und spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht."

Nina Hoger liest die Kerstin-Werner-Episoden. Matthias Brandt die Passagen mit Thomas Weidmann. Er der Klassenlehrer ihres Sohnes. Sie eine Sitzengelassene. Eine Mesalliance könnte man meinen. Aber Stephan Thome lässt eine reife Liebe daraus erwachsen.

Und der Hörer würde ja auch gerne an diese Liebe glauben, wäre da nicht die Stimme Nina Hogers, die es ihm schwer macht. Zu laut ausgesteuert wirkt sie außerdem grell, schrill und angestrengt. Sie ackert sich förmlich durch die eleganten Sätze des Romans.

Das würde vielleicht gar nicht so auffallen, wäre da nicht der Kontrast zu Matthias Brandt. Er spricht leicht, flüssig, beiläufig und belegt jedes Wort mit genau der richtigen Stimmung. Dieses Hörbuch gäbe ein gutes Lehrbeispiel dafür ab, was Stimme mit Gestimmtheit zu tun hat und was es heißt, ein Sprecher solle Literatur verkörpern, seine Stimmen solle ihr einen Körper geben.

Ist es der falsche, muss der Hörer sich an ihm vorbei kämpfen, um den brillanten Text dahinter noch zu erkennen. Ist es der richtige, wird sich der Hörer dem Text überlassen können, in ihn einsinken. Matthias Brandt verschafft ihm diese Wonne:

"Schau an, du bist ja doch noch gekommen, sagt er und denkt: Am besten wäre ein offener Pakt. Er ist nicht in der Lage, den Versuch nicht zu wollen, aber mehr hat er vorerst nicht zu bieten. Ein filigranes 'Vielleicht'. Sie dürfen bloß nicht anfangen, die Tiefe ihrer Wunden zu vergleichen. Das würde am Ende zu furchtbaren Siegen führen. Hör zu, sagt er, mit dem Gefühl, sich von sehr weit oben fallen zu lassen, ich finde, wir haben genug Zeit vertrödelt, oder?"

Besprochen von Brigitte Neumann

Stephan Thome: Grenzgang
Gelesen von Matthias Brandt und Nina Hoger
Griot Hörbuchverlag, Filderstadt 2010
6 CDs, 450 Minuten, 29,80 Euro
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