Chancengleichheit

"Bildungsarmut wird weitervererbt"

Mehr in die Röhre gucken, weniger vorgelesen bekommen: In manchen Familien Alltag.
Mehr in die Röhre gucken, weniger vorgelesen bekommen: In manchen Familien Alltag. © picture alliance / dpa / Foto: Patrick Pleul
Karin Böllert im Gespräch mit Gabi Wuttke  · 03.06.2014
Mehr als 32 Milliarden Euro werden jährlich für die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland ausgegeben. Dennoch geht die Schere zwischen bildungsfernen und bildungsnahen Kindern immer weiter auseinander, sagt die Forscherin Karin Böllert.
!!Gabi Wuttke: Wie können die Jüngsten in unserer Gesellschaft gestützt und geschützt werden? Bundespräsident Gauck wird es uns heute sagen, wenn er in Berlin den Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag in Berlin eröffnet. Wir schicken seinen Worten jetzt voraus: Für ein Drittel des Nachwuchses sah es in Deutschland noch nie so düster aus wie heute. Warum? – Das kann Karin Böllert erklären. Sie ist Professorin für Erziehungswissenschaften in Münster und hat als Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe die Studie erstellt, die zu diesem vernichtenden Urteil kommt. Schönen guten Morgen, Frau Böllert.
Karin Böllert: Guten Morgen!
Wuttke: Was fehlt, dass Sie zu so starken Worten greifen?
Böllert: Es fehlt eine Perspektive für ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland, die aus Familien kommen, in denen Arbeitslosigkeit vorherrscht, die in Armut aufwachsen oder wo die Eltern nicht über entsprechende Bildungsabschlüsse verfügen. Und die Bildungsarmut, die dadurch quasi erzeugt wird, die wird immer weiter vererbt. Das sind Kinder, da wird zuhause nicht vorgelesen, da findet keine Förderung im Hinblick auf ein Musikinstrument lernen statt, da wird auch der Medienkonsum nicht gemeinsam mit den Kindern gestaltet, die gehen in Schulen, die weniger gut qualifizierte Schulabschlüsse vermitteln, das fängt schon mit der Kita an, alles Dinge, die für die meisten Kinder selbstverständlich sind, fehlen diesen Kindern. Ihnen wird von Anfang an der Bildungsweg erschwert, und wer heute nicht über ausreichende Bildung verfügt, hat eigentlich auch für sein späteres Leben keine guten Chancen.
Wuttke: Was Sie gesagt haben ist ja mitnichten neu. Warum ist es so schlimm wie noch nie?
Böllert: Der Unterschied zu denen, denen es gut geht, wird immer größer und die Perspektiven, aus dieser Armutsfalle wieder herauszukommen, die sind enger geworden oder seltener geworden vielleicht.
"Es fehlt an Zukunft für junge Menschen"
Wuttke: Warum?
Böllert: Es fehlt an Lebensmöglichkeiten, an Zukunft für junge Menschen, auch jenseits sehr qualifizierter Bildungsabschlüsse. Wer heute keinen guten Schulabschluss hat, wer heute keinen qualifizierten Schulabschluss hat, der wird sein Leben lang Probleme haben, in der Gesellschaft Fuß zu fassen.
Wuttke: Sie führen also mit Ihrer Studie den Beweis, dass das von der CSU durchgesetzte Betreuungsgeld unter den Voraussetzungen, die Sie genannt haben, den Kindern schadet?
Böllert: Das Betreuungsgeld kommt in unserer Studie gar nicht vor. Wir haben die Situation der Kinder- und Jugendhilfe untersucht und es ist uns gelungen, deutlich zu machen, dass die Kinder- und Jugendhilfe einen ganz wichtigen Beitrag zum gelingenden Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen leistet. Sonst wäre, glaube ich, die Schere noch sehr viel größer, als wir sie jetzt schon erleben. Es ist aber wichtig, gerade Kinder aus Elternhäusern, wo nicht die Fürsorglichkeit vorherrscht, die wir eigentlich erwarten, wo es keine regelmäßigen guten Mahlzeiten gibt, wo im Winter die Wohnung nicht richtig geheizt werden kann, wo es an Winterkleidung fehlt, wo Kinder ohne Frühstück in die Schule kommen oder in den Kindergarten gehen, für diese Kinder brauchen wir eine Bildung und Förderung von Anfang an. Und wenn diese Kinder mit dem Betreuungsgeld zuhause gelassen bleiben, dann wird es für sie nicht gut ausgehen.
Wuttke: Setzt die Politik, setzt der Staat, setzen die Kommunen trotz aller gegensätzlichen Versprechen zu stark auf „Leuchtturm", auf „Qualität", auf „Elite" und zum Beispiel zu wenig auf qualifiziertes Kita-Personal?
Böllert: Wir haben ein Allzeithoch, was die Ausgaben der Kinder- und Jugendhilfe anbelangt. Es ist noch nie so viel Geld ausgegeben worden für die Kinder- und Jugendhilfe wie zurzeit. Es sind 32,3 Milliarden Euro jährlich und den größten Batzen davon müssen die Kommunen stemmen. Von daher kann man den Kommunen sicherlich nicht den Vorwurf machen, dass sie zu wenig Geld für die Kinder- und Jugendhilfe ausgeben. Wir haben aber die Situation, dass nicht mehr alle Kommunen in der Lage sind, dieses Geld auf Dauer auch verlässlich zur Verfügung zu stellen, weil gerade da, wo Probleme in der Kommune verstärkt vorhanden sind, weil wir mehr Arbeitslosigkeit haben, weniger gut qualifizierte Arbeitsplätze, genau da sind natürlich auch die Probleme natürlich häufiger und da sind die Einnahmen der Kommunen auch wieder geringer. Also da ist eine Spirale in Gang gesetzt worden, die es zwingend zu unterbrechen gilt.
Wuttke: Aber wenn Sie sagen, die Kommunen trifft nicht die Schuld, weil sie viel investieren, warum denn dann trotzdem das düstere Bild, das Sie gezeichnet haben? Das müsste doch eigentlich, so wie ich es verstanden habe, eine Zukunftsprognose sein, eine schlimme.
Böllert: Wir brauchen noch mehr! Wir brauchen zum Beispiel eine Qualitätsoffensive in der Kita, die dazu beitragen könnte, dass wir in der Kita kleinere Gruppen haben, wo die Kinder intensiver betreut werden können. Wir brauchen in der Kita auch Gruppen, wo Null- bis Dreijährige, also die Kleinsten der Kleinen, auch gemeinsam aufwachsen, gefördert, erzogen, gebildet werden. Wenn die in Kita-Gruppen sind, wo auch ältere Kinder mit aufgenommen worden, sind, dann bleiben auch deren Interessen, Bedürfnisse, Belange auf der Strecke, weil sie sich gegenüber den Stärkeren dann auch nicht durchsetzen können. Wir brauchen Kitas, wo eine Erzieherin für weniger Kinder zuständig ist, um sich intensiver auch um diese Kinder kümmern zu können. Wir brauchen auch bessere Arbeitsplätze für die Erzieherinnen selber, weil die leisten schon sehr viel. Das Ganze muss dann fortgesetzt werden in die Schule hinein. Wir brauchen für jedes Kind einen Ganztags-Schulplatz. Auch das ist keine Selbstverständlichkeit. Kinder, wo die Eltern keine Zeit haben oder vielleicht selber nicht die Fähigkeiten haben, Hausaufgaben zu betreuen, brauchen ein entsprechendes Angebot in der Schule. Wir brauchen Schulsozialarbeit an jeder Schule, auch das ist nicht der Fall.
"Wir hätten uns einen größeren Batzen von den Milliarden gewünscht"
Wuttke: Wie viele Milliarden also mehr bräuchten wir, unter anderem von Bundesfamilien- und Jugendministerin Schwesig?
Böllert: Frau Schwesig hat ja gerade letzte Woche bekannt gegeben, dass sie eine Milliarde zusätzlich erhalten hat im Rahmen des insgesamt zu verteilenden Sechs-Milliarden-Paketes. Aus der Kinder- und Jugendhilfe heraus hätten wir uns sicherlich einen größeren Batzen von diesen sechs Milliarden gewünscht. Man wird die Summe nicht konkret beziffern können, weil die Situation in jeder Gemeinde, in jeder Kommune auch wieder anders aussieht. Wir brauchen insgesamt eine bessere Finanzausstattung der Kommunen, damit die vor Ort – da kennen sie sich ja auch am besten aus – entscheiden können, wo haben wir Förderschwerpunkte, die wir gerne ausbauen möchten.
Wuttke: ..., sagt Karin Böllert, Professorin für Erziehungswissenschaften und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe. Der heutige Kinder- und Jugendhilfetag beginnt in Berlin. Danke schön!
Böllert: Gern geschehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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