Chance auf Erneuerung "ungenutzt verstrichen"

Claus Leggewie im Gespräch mit Britta Bürger · 15.09.2009
Die Weltwirtschaftskrise hat nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie nicht zu einem Umdenken auf den Finanzmärkten geführt.
Britta Bürger: Außer Spesen nix gewesen? Ein Jahr nach der Lehman-Pleite ist die globale Finanzkrise zwar nach wie vor das Top-Thema, doch für große Teile der Bevölkerung in Deutschland hat sich das Leben nicht grundsätzlich verändert – noch nicht. Es gibt so etwas wie eine gefühlte Krise, aber die wird von vielen auch schnell wieder verdrängt. Welche Folgen könnte das haben? Darüber hat sich der Politikwissenschaftler Claus Leggewie Gedanken gemacht. Er leitet das Kulturwissenschaftliche Institut Essen, ist Mitherausgeber der Blätter für deutsche und internationale Politik und hat zuletzt mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer ein Buch geschrieben, das sich mit der Frage befasst, wie Demokratien auf die Krisen in Ökonomie und Ökologie gerecht und nachhaltig reagieren sollten. Guten Morgen, Herr Leggewie!

Claus Leggewie: Guten Morgen, Frau Bürger!

Bürger: Nach der Lehman-Brothers-Pleite vor einem Jahr, da hatten manche die Hoffnung, dass der Zusammenbruch der Finanzmärkte eine Art Schocktherapie auslösen könnte, die Krise als Chance, war so ein Schlagwort. Ist diese Chance vertan worden?

Leggewie: Ja, sie ist ungenutzt verstrichen. Wir haben es mit einem Herzinfarktpatienten zu tun, der unter Einsatz allen medizinischen Wissens gerettet wurde, der aber jetzt wieder anfängt, sehr viel zu rauchen, zu schlemmen und über die Autobahn zu rasen, um ihn herum ein besorgtes Ärzteteam, das ihn immer wieder ermahnt, doch vernünftig zu sein. Aber ich glaube nicht, dass irgendjemand ernsthaft behaupten kann, dass im Bankensystem selbst, auch im Milieu der Banker, Einsicht Platz gegriffen hat; dass es uns möglich geworden ist, über nationalstaatliche oder internationale Kontrollmechanismen das Finanzsystem handhabbar zu machen; und dass wir die Probleme angegangen sind, die uns nun wirklich beschäftigen: Das ist ein auch durch die Finanzkrise wachsendes Nord-Süd-Gefälle und es ist eben der Aufschub von Maßnahmen, die wir dringend treffen müssten, um die Klimakrise zu bearbeiten.

Bürger: Wir haben ja eben im O-Ton noch mal Wirtschaftsminister zu Guttenberg gehört, der die Finanzkrise ausdrücklich als "keine Systemkrise" bezeichnet hat. Was geht Ihnen dabei durch den Kopf?

Leggewie: Ja, das ist Gesundbeterei, das System ist nicht in einer Krise, das System ist die Krise. Wir haben keine alternativen Wirtschaftssysteme, es gibt niemanden mehr, der ernsthaft daran glaubt, eine Alternative zum kapitalistischen Wirtschaftssystem produzieren zu können. Aber doch sehr stark in Anspruch genommen sind im Moment diejenigen, die uns beweisen müssen, dass der Kapitalismus als System lernfähig ist, dass er eben aus diesen Defiziten, Strukturmängeln tatsächlich gelernt hat. Ich lese heute, dass der Zertifikatehandel blüht, dass auch im Grunde genommen die Banken weiterhin diejenigen sind, die diesen Zertifikatehandel treiben, ihre Mitarbeiter unter Druck stellen, hier Gewinne zu machen. Es gibt 500 neue Produkte und, viel schlimmer noch: Wir kaufen diese Sachen – ich persönlich nicht, aber viele kaufen sie unbesehen und tappen im Grunde genommen schon wieder in die nächste Falle. Also, ich kann nicht verstehen, wo hier tatsächlich das System eine Korrektur vorgenommen hat. Der Kollege Berry Eichengreen, ein Wirtschaftshistoriker, Wirtschaftswissenschaftler, sagt: Was wir erleben, ist, dass auf der Titanic die Stühle umgestellt werden.

Bürger: Die Krise hat ja mehrere Gesichter, Sie haben das eben schon angedeutet, neben der Finanz- und der Wirtschaftskrise stehen wir vor einer ökologischen Krise. Im Grunde muss sehr schnell sehr viel passieren, sowohl in der politischen Weichenstellung als eben auch in der Änderung des Verhaltens eines jeden Einzelnen. Kann man denn die derzeit brennenden Probleme Ihrer Ansicht nach überhaupt mit den herkömmlichen Methoden und Mechanismen des demokratischen Regierens lösen?

Leggewie: Da bin ich von überzeugt, allerdings müssten die Demokratien diese Herausforderung jetzt auch annehmen. Nehmen wir ein solches Gremium wie G20, die in Pittsburgh zusammentreten werden. Das ist ja eine Mischung, eine interessante Mischung aus demokratischen und autoritären Regimen. China, der große Gewinner der Finanzkrise – jedenfalls auf den ersten Blick –, ist hier eine Führungsnation geworden. Es gibt schon Veränderungen seit ein, zwei Jahren. Afrika hat keine Stimme in diesem Gremium, übrigens Ost-, Mitteleuropa auch nicht, Russland ist schwer angeschlagen. Wie in dieser Zusammensetzung – wir nennen das ein demoautoritäres Mischregiment, also wo Demokratien und Autokratien, wie zum Beispiel Saudi-Arabien oder Russland, nebeneinandersitzen und sich ein neues Weltfinanzsystem ausdenken sollen –, … das ist eine interessante Erfahrung. Also, der Nationalstaat, der ja hier seine Muskeln hat spielen lassen, der sich als Retter auch der Sparer profiliert, er muss sich einbringen in größere, supernationale Gremien, und ob das funktioniert und ob hier tatsächlich auf eine nachhaltige und demokratisch einwandfreie Weise Entscheidungen getroffen werden oder ob wir so etwas wie eine virtuelle Weltregierung in Gestalt der G20 oder G7/8 bekommen, das muss sich erweisen. Die Demokratien müssen hier Selbstbewusstsein an den Tag legen. Und die Finanzkrise ist insofern auch sehr misslich, weil sie natürlich jetzt den G20-Gipfel wieder beschäftigen wird – der ist kein bisschen weitergekommen damit, die Rating-Agenturen unter Kontrolle zu nehmen, er hat die Hedgefonds nicht eingegrenzt, die Londoner City und Wall Street können weiterhin machen, was sie wollen im Großen und Ganzen –, aber das eigentliche Thema, was dort verhandelt werden müsste, ist, wie man Kredite zusammenbekommt für die Finanzierung von Maßnahmen gegen die Klimakrise. Das sind Klimaschutzmaßnahmen, das sind aber auch Anpassungs- und Katastrophenschutzmaßnahmen, die insbesondere in den Ländern des Südens, in Asien und in Afrika, greifen müssen. Und sozusagen die Finanzkrise hat diese Agenda wieder weiter nach hinten geschoben – ganz abgesehen von den vielen Konjunkturprogrammen, die wie in Deutschland in völlig unsinnige Kurzzeitmaßnahmen hineingegangen sind, statt wirklich langfristig, auf Dauer, neue Strukturen eben gerade für dieses angeschlagene, kapitalistische System zu schaffen.

Bürger: Angela Merkel hat ja im Kanzlerduell am Sonntag mehrfach ihr Credo wiederholt, das da heißt: Wachstum schafft Arbeit. Wohin führt uns dieses Credo?

Leggewie: Ja, das führt uns dazu, dass wir im Vertrauen auf diesen fast schon religiös gewordenen Spruch weiterhin an den unbewährten Konzepten festhalten. Sie müsste erklären… Es ist nichts gegen Wachstum an und für sich einzuwenden, sie müsste erklären, welche Art von Wachstum, sie müsste erklären, ob das ein Wachstum ist, das die Havarie von Atomkraftwerken einrechnet oder ob es eines ist, das für zukünftige Generationen Grundlagen ihrer Existenz legt. Der Herzinfarktpatient, von dem wir anfangs gesprochen haben, der schaut nur auf sein eigenes Überleben. Der schaut nicht darauf, was mit seinen Kindern und Enkeln wird, und das ist unsere Situation. Wachstum – für wen? Wachstum – unter welchen Bedingungen? Wachstum – im Blick auf welche Nachhaltigkeit? Das sind doch die Dinge, die man erklärt bekommen haben möchte von zwei Prätendenten auf das Spitzenamt in der Bundesrepublik, und wo auch dann bitte die Journalisten, die die fragen, endlich mal nach fragen können … Wir reden in Pittsburgh und im deutschen Fernsehen über Boni und die Beschränkung von Managergehältern. Das ist ein symbolisches Thema. Wir müssten reden über ganz andere Dinge, den Einstieg in wirklich nachhaltige Formen von Wirtschaft und Gesellschaft.

Bürger: Stellen wir dem Begriff Wachstum den Begriff Verzicht gegenüber. Wie könnte ein Mentalitätswechsel in der Bevölkerung vonstatten gehen, der Verzicht auch als Gewinn erkennt?

Leggewie: Die Grünen sind ja in den 60er-, 70er-Jahren – ich rede von den sozialen Bewegungen, die zu den Grünen hingeführt haben und dann die grünen Parteien, die es in Frankreich, Deutschland bis hin nach Amerika gegeben hat –, die sind sehr lange mit dem Askese- und Verzichtsthema hausieren gegangen und haben hier nur ein sehr begrenztes Milieu erreicht. Vieles, was dem Normalverbraucher als Verzicht erscheint – wenn man zum Beispiel sagt, das Autofahren wird teurer, wenn man sagt, man müsste bestimmte Formen der Ernährung überprüfen –, vieles, was als Verzicht erscheint, ist im Grunde genommen die Möglichkeit, auf etwas zu verzichten, was einem ohnehin nichts bringt. Also, wir haben diese ganze Diskussion in den letzten zehn Jahren gehabt über Geiz ist geil, da haben wir Nahrungsmittel oder Konsumgüter gekauft von sehr geringer Qualität, die längst, zum Beispiel bei den Konsumgütern, nicht sich als langlebig erwiesen haben. Also, hier müssen wir einfach deutlich machen, dass vieles, was wir an Freiheit erleben wie zum Beispiel die Mobilität des Individualverkehrs, in Wirklichkeit eine erzwungene Mobilität ist, die uns jetzt in Staus vor Autobahnbrücken und Parkplätzen stellt, die mit dem Konjunkturprogramm II gebaut werden. Also, wir müssen einfach heraus aus dieser Annahme, dass einfaches, schlichtes Wachstum des Bruttosozialproduktes und mehr Verkehr, mehr Flugreisen in alle Welt, dass das irgendeine Lebensqualität steigert. Wir sind längst, in den großen, reichen Ländern, in ein Stadium von Überentwicklung eingetreten und jeder begreift sofort, wenn man fünf bis sechs plausible Beispiele bringt, dass der Verzicht auf bestimmte Dinge gar nicht so schlimm ist, wie man glaubt, sondern einen Gewinn an Lebensqualität bringt.

Bürger: Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie, ein Jahr nach der Lehmann Brothers-Pleite. Herr Leggewie, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Leggewie: Ich danke auch!