Céline Minards: "Das große Spiel"

Aussteigen als Option

Das Montblanc-Massiv in den französischen Alpen
Céline Minards Protagonistin zieht es in die Einsamkeit der Berge. © dpa / picture-alliance / Hinrich Bäsemann
Von Dirk Fuhrig · 01.02.2018
Die französische Schriftstellerin Céline Minard hat sich eine Eremitenexistenz erdacht. Ihr Roman "Das große Spiel" zeigt, wie wichtig es ist, sich auf sich selbst zu besinnen. Das Buch ist ein Spiel mit der Möglichkeit, aus dem schnell getakteten Alltag auszusteigen.
Der Marché d’Aligre im 12. Arrondissement von Paris ist einer der trubeligsten der Stadt. Hier, ein paar Schritte von der Bastille-Oper entfernt, gibt es nicht nur Obst und Gemüse, sondern auch die feinsten ökologisch aufgewachsenen Hühner aus der Bresse. Langusten, feine Pasteten und zahllose Käsesorten werden an den Ständen angeboten. Céline Minard liebt dieses Quartier um die alte Markthalle herum. Und seine Cafés.
Erstaunlich, dass die Schriftstellerin ausgerechnet einen derart wuseligen und lauten Ort für unser Treffen ausgewählt hat. Ihr neues Buch handelt nämlich vom glatten Gegenteil – einer Frau, die sich in die totale Einsamkeit zurückzieht.
"Sie entfernt sich vom Lärm, würde ich sagen. Sie zieht sich aus dieser immer so lauten menschlichen Gesellschaft heraus. Sie kappt die Verbindungen zum sozialen Leben und stellt sich einfach ein Stück weiter nach oben. Dadurch gewinnt sie eine Autonomie, die es ihr ermöglicht, aus der Distanz heraus auf die menschlichen Beziehungen zu schauen."

Auf der Suche nach dem Platz in der Menschheit

Warum die Heldin in Céline Minards Roman "Das große Spiel" in eine karge, entlegene Bergregion aufbricht, bleibt lange rätselhaft. Zunächst meint man, es handele sich um eines von diesen Überlebens-Camps, in denen leitende Angestellte neue Kräfte für den Arbeits-Kampf sammeln – oder ihr Burn-Out in den Griff kriegen wollen. Doch darum geht es nicht, sagt die 48 Jahre alte Autorin mit den kantigen Gesichtszügen.
"Meine Heldin sucht nicht ihren Platz in der Gruppe, sondern ihren Platz in der Menschheit. Das ist viel abstrakter. Sie hat sich weit entfernt von allen, sich ganz isoliert. Sie will niemanden treffen. Das hat überhaupt nichts mit Managern zu tun, die ein Survival-Training absolvieren. Man könnte höchstens sagen, dass sie versucht, ihr Leben zu managen. Es geht hier eher um ein Ausprobieren der sozialen Fähigkeiten."
Die namenlose Frau hat sich in der Einsamkeit des Hochgebirges aussetzen lassen, aber sie hat ein hypermodernes "Habitat" – eine Art Luxus-Zelt - und einige Werkzeuge und Gerätschaften dabei. Sogar ihr Cello hat sie mitgebracht. Eine Aussteigerin auf höchstem auch kulturellen Niveau:
"Sie nimmt die schönsten Dinge mit, die sie hat. Man erfährt, dass sie Bücher liest, wenn auch nicht welche. Und man weiß eben, dass sie Cello spielt. Das ist eine kulturelle Aktivität, das ist nicht passiv. Sie kommt mit ihrer Kultur und ihrem Wissen. Das ist auch eine Art von Training. Sie muss laufen, sie muss ihr Territorium kartographieren. Disziplin und Durchhaltevermögen sind wichtig."

Weit entfernt vom Alltag

Die Eremitin wandert Tag ein, Tag aus, sie klettert von Berggipfel zu Berggipfel – und entfernt sich auch mental immer weiter von der hektischen, modernen Alltagswelt. Sie marschiert und verausgabt sich – eine körperliche Anstrengung, die meditative Züge trägt.
"In der Mythologie sind Berge häufig der Übergang zwischen dem Irdischen und dem Überirdischen. Meine Protagonistin kommt mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung und ihrer Kultur in die Bergwelt. Und all das stellt sie auf den Prüfstand: Was heißt es, Ackerbau zu betreiben, was bedeutet es, Musik und Literatur zu machen. Wozu ist das alles gut?"
Céline Minards Eremitin stellt sich Fragen nach den Bedingungen der menschlichen Existenz. Der Roman ist ein radikales Buch, sowohl vom hochalpinen Setting als auch stilistisch.
"Alle Berge sind ‚Zauberberge‘, wenn man sie nur eingehend erwandert hat. Ja, die Bergwelt ist ein magischer Ort. Eine Region des Übergangs. Banditen nutzen die Berge ebenso wie Flüchtlinge, Migranten, die illegal von einem Land ins andere gelangen wollen. Es gibt überall Wege, Öffnungen. Nichts ist eindeutig in einem Gebirge. Das Relief ist wie eine Masche in einem Netz, durch die man durchschlüpfen kann."
Die 1969 in Rouen in der Normandie geborene Schriftstellerin wirkt in der persönlichen Begegnung ein bisschen wie ihre Protagonistin. Beherrscht, etwas schroff, beobachtend, zurückhaltend. Sie braucht viele Worte, um zu erläutern, worum es in ihrer Literatur geht. Und es dauert eine Weile, bis sie auch anfängt, von sich selbst zu sprechen:
"Wie es sich anfühlt, am Berg zu laufen, diese Erfahrung habe ich oft gemacht. In einem Buch stecken natürlich immer viele Dinge von einem selbst. Das ist nichts, was ich mir angelesen hätte, auch wenn ich genauer recherchiert habe, was beim Klettern in großer Höhe besonders wichtig ist, zum Beispiel."

Drei Monate auf der Almhütte

Auch Denker wie der Zurück-zur-Natur-Philosoph Jean-Jacques Rousseau haben sie beeinflusst. Oder Ludwig Wittgenstein, der in Norwegen den "stillen Ernst" der Landschaft inhalierte.
"Am Anfang dachte ich tatsächlich an Wittgenstein und seine einsame, unzugängliche Hütte, die nur über das Wasser zu erreichen war und umgeben von Steinen und rauer Natur. Dort hat er die Struktur der Grammatik neu gedacht. Das war enorm. Mich interessieren solche Dinge, die mit großer Unerbittlichkeit und Disziplin zu tun haben. Die absolute Kontrolle durch den Geist, die Betrachtung der Welt aus der Distanz, ohne zu viele Affekte."
Um dieses starke, in der zeitgenössischen Literatur so außergewöhnliche Buch zu schreiben, ist Minard zeitweise selbst zu einer Art Einsiedlerin geworden:
"Ich habe drei Monate auf einer Almhütte verbracht – und einfach nichts gemacht. Ich habe nachgedacht und bin sehr viel gewandert."

Die tagesaktuellen Debatten sind eine Pest

Ohne andere Menschen, ohne Internet – in der Einsamkeit kommt man sich selbst näher. Und findet eine klarere Perspektive auf das Leben:
"Die tagesaktuellen Debatten sind für mich abstoßend. Ich vermeide sie wie die Pest – sie sind eine Pest. Aber in meinen Büchern taucht vieles auf, was mit unserer Gegenwart zu tun hat. Ich spiele immer über Bande, nie direkt. Im ‚Großen Spiel‘ finden sie Buddhismus, Meditation, das Bergsteigen, die ultra-moderne Ausstattung ihrer Station. Oder die Frage, wie man sich autonom mit Energie versorgen kann. All das steckt untergründig in meinem Buch – auch wenn ich eben keine Debatte anstoßen will."
Keine Debatte über Ökologie oder die Gefahren der digitalen Medien, über Überwachung und Radikalisierung, über neue Formen des Zusammenlebens. Céline Minards Literatur ist das Gegenteil von schneller Meinung und hektischer Nachricht:
"Manche Dinge müssen erst abkühlen, bevor man darüber nachdenken und sprechen kann. Meine Heldin zieht sich zurück, um nachzudenken. Genau das tut sie. Ich finde es widerlich, wie sich alle immer auf die letzten News stürzen. Es wundert mich, dass es noch keine Fernsehserie über den Dschihad gibt. Alles wird doch zur schnell konsumierbaren Ware gemacht. Da muss man echt aufpassen."
… sagt die so bescheiden und gleichzeitig so entschieden auftretende Schriftstellerin. Céline Minard, steht auf, geht an den Tresen, zahlt ihren Kaffee und geht hinaus auf den Marché d’Aligre, hinaus ins wilde Großstadtleben.

Céline Minard: "Das große Spiel"
Matthes und Seitz, Berlin 2018
192 Seiten, 20 Euro

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