Carsten Jensen: "Der erste Stein"

Wenn der Krieg zum Spiel wird

Buchcover "Der erste Stein" von Carsten Jensen
Kann man Krieg und Kriegsverbrechen auseinanderhalten? © Albrecht Knaus Verlag/imago/Kyodo News
Von Tobias Gohlis · 30.06.2017
Am Sonntag erscheint unsere neue Krimibestenliste: Tobias Gohlis stellt den höchsten Neueinstieg vor: "Der erste Stein", ein Roman, der in Dänemark bereits Furore gemacht hat. Ein Buch, das auf den ersten Blick kein Krimi ist, sondern ein Kriegsroman.
"Der erste Stein" ist ein Kriegsroman. Er erzählt das Schicksal des Dritten Zuges einer dänischen Infanterieeinheit. In Afghanistan soll sie dazu beitragen, den Frieden zu wahren, die Bevölkerung zu schützen und die westliche Zivilisation zu etablieren. So weit es geht. 27 Männer und eine Frau, Hannah, der Zugführer Rasmus Schrøder, ein Militärpfarrer und der Kommandeur scheitern an dieser Aufgabe. "Der erste Stein" ist aber auch ein Kriminalroman, weil er, wie viele andere seiner Art, Verbrechen aus einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang versteht. Verbrechen sind nicht nur die, die im Strafgesetzbuch stehen. "Der erste Stein" stellt ganz selbstverständlich die Frage, ob man Krieg und Kriegsverbrechen auseinanderhalten kann.
Zugführer Rasmus Schrøder ist unter den Soldaten der einzige, der sich auf beiden Seiten des Konflikt auskennt: Er ist Däne, war früher Online-Spiel-Entwickler, hat Kriegserfahrung und spricht Paschtu. Er ist charismatisch und – ein Verräter. Nachdem er einen Teil des Zuges in eine Falle der Taliban gelockt hat, geben die überlebenden Soldaten ihrem bis dahin all inklusive abgesicherten Einsatz endlich Sinn: Rache. Sie ziehen für die Ehre ihres Zuges in einen persönlichen Krieg, um Schrøder zu fangen.

Inkarnation des modernen Krieges

Seit der Ilias wissen wir, dass zu einem Krieg listige, bösartige und grausame Helden gehören. Rasmus Schrøder verkörpert alle drei klassischen Typen: Achill, das Vieh, den listigen Odysseus und den starken Ajax. Und dazu den modernen Krieger, den Spieler. Er lenkt US-Drohnen um, manipuliert die Taliban und örtlichen Stämme, um diesen dummen, friedfertigen Dänen, die seine Kameraden sein sollen, zu zeigen, was ein richtiger Krieg ist. Schrøder damit ist als Figur so realistisch wie ein antiker Held. Er ist die Inkarnation des modernen Krieges, der ohne permanente Verbrechen und ihre permanente Verleugnung nicht auskommt.
Der wüstentrockene, unerbittlich reportagehafte Stil, die trotz ihrer Vielzahl großartig gezeichneten Figuren, die Kenntnis der Lage – all das macht "Der erste Stein" zu einem herausragenden Buch. Jensen zeigt, wie recht normale Dänen unter den heutigen Bedingungen ganz schnell ihre erlernten Werte aufgeben und sich in westliche Bestien verwandeln. Das macht diesen Roman zu einem wichtigen Werk zum Verständnis der Gegenwart: So was passiert, wenn unser Wohlstand am Hindukusch verteidigt wird. Und: Bei der Lektüre denkt man zwangsläufig an die aktuellen Diskussionen über das Leitbild deutscher Soldaten.

Carsten Jensen: "Der erste Stein"
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
Albrecht Knaus Verlag, München 2017
638 Seiten, 26,00 Euro