Burkina Faso im Terror

Eine Million Menschen auf der Flucht

21:50 Minuten
Fatimata Ourba sitzt mit ihren vier Kindern, anderen Familienmitgliedern und Nachbarn auf einem blauen Plastikstuhl und guckt in die Kamera. Sie ist geflüchtet aus der Sahel-Region, lebt jetzt aber in in Pazani - ein Viertel im Norden von Ouagaodougou.
Fatimata Ourba ist mit ihrem Mann und vier Kindern aus dem Norden von Burkina Faso in die Hauptstadt Ouagadougou geflüchtet. Aus Angst vor Terrorangriffen. © Katrin Gänsler
Von Katrin Gänsler · 26.11.2020
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Laut UNHCR spielt sich in Burkina Faso die am schnellsten wachsende humanitäre Krise der Welt ab. Eine Million Binnenflüchtlinge wurden vertrieben. Bei den Wahlen am Sonntag war die Kernfrage: Soll die Regierung mit den Terroristen verhandeln?
Rasamané Nikiema ist ein großer, hagerer Mann im weißen Gewand – einem Boubou, das viele in Westafrika tragen. Er lebt in Saaba, einem Vorort von Ouagadougou – die Hauptstadt von Burkina Faso. Hier versorgt er sich auf einem kleinen Stück Land selbst – züchtet Ziegen und baut Mais an. Aus dem Haus holt er ein langes, glänzendes Messer und einen Holzschlegel – das habe er zum Schutz angeschafft.
"Es gab eine Zeit, in der wir große Probleme mit Diebstahl hatten. Hier in Saaba hat man uns die Ernte gestohlen und auch unser Vieh. Dann haben wir gehört, dass es im Dorf Rasamkande eine Gruppe gibt, die sich Koglewego nennt. Wir haben sie besucht und danach selbst so eine Verteidigungsgruppe gegründet. Seitdem wird bei uns weder die Ernte noch das Vieh gestohlen."
Rasamané Nikiema ist ein großer, hagerer Mann im weißen Gewand – einem Boubou. Er lebt in Saaba, einem Vorort von Ouagadougou.
Bauer Rasamané Nikiema vertraut den Milizen mehr als der Polizei.© Katrin Gänsler
Koglewego stammt aus der Sprache der Mossi, der größten ethnischen Gruppe in Burkina Faso, und bedeutet "Wächter des Waldes". Von diesen Selbstverteidigungsmilizen gibt es inzwischen viele im Land. Sie haben richtige Strukturen aufgebaut und übernehmen zahlreiche Aufgaben: Das Verhaften von Einbrechern, die Sicherstellung von Diebesgut, der Schutz bei Veranstaltungen.
Eigentlich Aufgaben der Polizei, aber Bauer Rasmané Nikiema findet: "Wir haben das Recht, jemanden festzuhalten. Was ist, wenn jemand kommt und meine Ernte stiehlt? Den müssen wir doch an der Flucht hindern und der Polizei übergeben."

"Das funktioniert besser als mit der Polizei"

Wie erfolgreich die Koglewego sind, wollen mir der 64-Jährige und andere Mitglieder im Nachbarort zeigen. Dort haben die "Wächter des Waldes" eine eigene Zentrale aufgebaut. Unter dem Schatten eines großen Baumes haben sie schmale Holzbänke und einen kleinen Tisch gestellt. Daneben ist ein Raum, der mit einer schweren Metalltür zugesperrt wird. Dahinter stehen 20 verstaubte Mopeds und Fahrräder. Diebesgut. Es wartet darauf, dass die Besitzer es abholen. Längst ist die Zentrale zum Anlaufpunkt der Einwohner geworden.
An diesem Donnerstagmorgen auch für Franck Compaoré, der bestohlen worden ist. "Ich habe einen Bruder verloren. Als ich zur Beerdigung gegangen bin, habe ich mein Moped zu Hause gelassen. Als wir später zurückkamen, war es nicht mehr da. Um das zu melden, bin ich zu den Koglewego gekommen. Das funktioniert besser als mit der Polizei."
Wie viele andere Menschen auch stört er sich nicht daran, dass die Miliz als Hilfssheriff arbeitet. Dabei gibt es keine Ausbildung, keine Kontrolle, ob Menschenrechte eingehalten werden, keine externen Prüfungen. Jeder kann mitmachen. Das zeigt eins: Der Sicherheitsapparat in Burkina Faso hat in den vergangenen Jahren versagt. Die Lücke füllen neue Organisationen.

Terror-Vorurteile gegen Peul-Minderheit

Feierabendverkehr in Ouagadougou. Durch das Zentrum drängeln sich unzählige alte, laute Mopeds, kleine Lastwagen und Fahrradfahrer. An einer der Hauptstraßen liegt das Büro von Issa Diallo. Er vertritt eine der fast 70 Sprachgemeinschaften in Burkina Faso. Genauer gesagt ist er der Präsident der nationalen Kommission für die Peul-Sprache – gesprochen von einer ethnischen Gruppe, die in vielen anglophonen Ländern Westafrikas als Fulani bekannt ist. Sie halten Vieh und viele leben bis heute als Halbnomaden.
Angesprochen auf die Selbstverteidigungsmilizen winkt Diallo ab. Die hätten nichts mit dem Schutz der Bevölkerung zu tun. "Alle Peul, die in ländlichen Regionen leben, sind auf die eine oder andere Weise terrorisiert. Sie fragen sich schon lange, ob die Koglewego oder die Miliz der Freiwilligen zur Verteidigung des Vaterlandes in ihren Siedlungen ankommen werden."
Auch die Armee böte ihnen keinen Schutz, im Gegenteil. Vor den Soldaten hätten viele Peul ebenso Angst, so Issa Diallo.
Dabei galt Burkina Faso, wo knapp 21 Millionen Menschen leben, lange als beispielhaft für ganz Westafrika. Das Land gehört laut Entwicklungsindex der Vereinten Nationen zwar stets zu den ärmsten der Welt. Doch anders als in Nachbarstaaten waren Konflikte zwischen den vielen Ethnien und Religionen bisher die Ausnahme. Der Staat ist für seine Dialogbereitschaft bekannt.
Aber offenbar hat sich das in den vergangenen Jahren geändert. Als Wendepunkt gilt das Jahr 2014. Damals wurde Langzeitherrscher Blaise Compaoré – nach 27 Jahre an der Macht – durch die Zivilgesellschaft zum Rücktritt gezwungen. Er lebt im Nachbarland Elfenbeinküste im Exil. Es heißt, er habe in seiner Regierungszeit mit Terrorgruppen aus der Region Deals verhandelt, damit Burkina Faso nicht angegriffen wird.
Falls es sie gegeben hat, gelten sie nicht mehr. In den vergangenen zwölf Monaten sind in Burkina Faso 2730 Menschen durch Überfälle, Angriffe oder Kämpfe getötet worden. So haben es die amerikanischen Konflikt-Analysten der Nichtregierungsorganisation ACLED gezählt.
Diese neue Gewalt wirke sich auch auf das Miteinander aus, sagt Issa Diallo. "Das Misstrauen ist riesig. Im Norden gibt es Gegenden, in denen ein Peul-Mann nicht unterwegs sein kann. Wenn er das tut, kommt er nicht mehr lebend zurück."
Die Peul machen gut acht Prozent der Bevölkerung aus, sind muslimischen Glaubens und viele fühlen sich stigmatisiert, sagt ihr Vertreter. Das hängt zusammen mit der "Gruppe für die Unterstützung des Islams und der Muslime". So nennt sich eine Terrorbewegung, die besonders häufig Anschläge im Norden und Osten von Burkina Faso verübt. Ihren Ursprung hat die Gruppe zwar 2017 in Mali. Der Gründer – Amadou Kouffa – ist jedoch ein Peul. Deshalb heißt es immer wieder, dass vor allem Angehörige dieser Ethnie rekrutiert werden. Das führt zum Vorurteil: Peul sind Terroristen.
Wegen dieser Anschuldigungen ging die Armee offenbar in den vergangenen Monaten gegen Peul im Norden vor. Es soll Hinrichtungen in der Stadt Djibo gegeben haben – ohne Untersuchung oder Prozess, kritisiert die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Sie spricht von Massengräbern.

Opposition fordert mit Terroristen zu verhandeln

Das alte Gefühl von Sicherheit und Stabilität in Burkina Faso ist weg. Der jahrelange Antiterrorkampf von Präsident Roch Marc Christian Kaboré sei erfolglos, klagt Sandrine Nama. Sie ist Programmkoordinatorin der nichtstaatlichen Organisation "Dialog für Gerechtigkeit und Sicherheit".
"Die Maßnahmen helfen nicht. Man hat den Eindruck: Je mehr gegen den Terrorismus unternommen wird, desto mehr schlagen die Terroristen zurück. Sie spalten unsere Gemeinschaft."
Präsident Kaboré 2015 bei seinem ersten Wahlsieg.
Burkina Fasos Präsident Roch Marc Kaboré will nicht mit Terroristen verhandeln.© AFP / Issouf Sanogo
Da militärische Lösungen also nicht funktionieren, beherrscht folgende Frage die Debatte: "Soll man mit Dschihadisten verhandeln? Es ist die Frage, die sich jeder stellt. Während es Befürworter gibt, sagen andere: Sind sie überhaupt bekannt? Wie will man verhandeln?"
Es war auch die Kernfrage vor der Präsidentschaftswahl am vergangenen Sonntag. Viele Oppositionspolitiker haben sich für Gespräche ausgesprochen. Darunter auch Eddie Komboïgo, Spitzenkandidat der Partei des einstigen Langzeitherrschers Compaoré.
"Es ist eine Vorgehensweise, die wir verstehen müssen: Was soll mit diesen Angriffen erreicht werden? Warum greifen diese Leute weder Frankreich, Großbritannien, Deutschland noch den Tschad an? Aber warum den Sahel? Dazu müssen Informationen gesammelt werden."
Der Wunsch nach Verhandlungen hängt auch mit der Entwicklung im Nachbarland Mali zusammen. Dort hatten bereits 2012 verschiedene Terrorgruppen den Norden besetzt. Trotz verschiedener internationaler Sicherungsmissionen, an denen sich auch die Bundeswehr beteiligt, sind der Norden und das Zentrum bis heute instabil. In Mali herrscht mittlerweile Konsens darüber, dass Gespräche mit den Terroristen geführt werden müssen. Die militärische Lösung hat keinen Erfolg gebracht.
In Burkina Faso hat Präsident Kaboré Treffen und Verhandlungen offiziell aber immer abgelehnt.

Asymetrischer Krieg sorgt für eine Million Binnenflüchtlinge

Auf einem kleinen Hinterhof in Pazani. Das Viertel liegt im Norden von Ouagadougou und ist nur über eine Sandpiste zu erreichen. Zahlreiche Binnenflüchtlinge haben hier einen Zufluchtsort gefunden. Im Mai 2019 ist auch Fatimata Ourba nach Pazani gekommen.
"Als die Terroristen kamen und das Morden begann, hat jeder geschaut, wie man fliehen kann. Organisiert war da nichts. Heute ist es etwas ruhiger, und man versucht mit allem, was man hat, das Dorf zu verlassen."
Die 25-Jährige kommt ursprünglich aus Arbinda in der Region Sahel. Die Kleinstadt, rund 250 Kilometer nördlich von Ouagadougou, hat es im vergangenen Jahr besonders schwer getroffen. Mal starben bei Angriffen rund 30, mal mehr als 60 Personen. Verhindern konnte die Armee das nicht.
"Ob die Dschihadisten aus Mali oder Burkina Faso kommen, wissen wir nicht. Es gelingt ihnen aber, plötzlich aufzutauchen und wieder zu fliehen."
Durch den asymmetrischen Krieg verlassen immer mehr ihre Heimat. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen zählt inzwischen eine Million Menschen, von denen viele vor dem Nichts stehen. Es ist eine der größten Flüchtlingskrisen der Welt, die in Europa aber bisher wenig Beachtung findet. Längst nicht alle Vertriebenen sind in Camps untergebracht. Stattdessen haben viele Unterschlupf bei der Familie gefunden, wie auch Fatimata Ourba, ihre vier Kinder und ihr Mann. Sie hatten Glück. Ihre Eltern hatten das kleine Grundstück in Pazani schon vor langer Zeit gekauft. Jetzt konnten sie das kleine Haus errichten.
Neben dem hellblauen Plastikstuhl, auf dem Fatimata Ourba sitzt, steht ein großer Topf. Sie hat Reis gekocht und rührt jetzt in den Resten. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist immer wieder ein Problem. Sie und die übrigen Flüchtlingsfamilien sind auf Spenden angewiesen. Kaum einer der Vertriebenen findet hier einen Job. Kein Wunder, lebt in Burkina Faso sowieso schon jeder dritte unterhalb der Armutsgrenze. Für die junge Bevölkerung gibt es wenig Perspektiven. Und die Arbeit in der Heimat der Geflüchteten liegt brach.
Keiner bestellt die Felder, klagt Fatimata Ourba und spricht dann von ihrem großen Wunsch: "Wenn es die Sicherheitslage zulässt, möchte ich unbedingt nach Hause."
Auf die Frage, wann das seien könnte, zuckt die Frau mit dem runden Gesicht aber mit den Schultern. Prognosen, wann der Terror möglicherweise aufhört, gibt niemand ab.

Rapper Smockey will weiter für Demokratie kämpfen

Zurück in Ouagadougou, im Studio Abazon des Rappers Smockey. Anlässlich der Wahlen hat er den neuen Song "Pourriture Noble" – "Edelfäule" – geschrieben. Darin beschreibt er den Kauf von Wählerstimmen, bizarre Hierarchien innerhalb der Gesellschaft und die korrupte politische Elite.
Im Song heißt es: Je schlechter es dem ganzen Land geht, desto mehr wird mein Kapital wachsen. Smockey, dessen bürgerlicher Name Serge Bambara lautet, ist das bekannteste Mitglied der Balai Citoyen, der "Bürgerbesen". Die Protestbewegung aus der Zivilgesellschaft zwang Compaoré 2014 durch wochenlange Proteste zum Rücktritt. Das machte sie weltbekannt und populär.
Viel geändert hat sich aber nicht im Land, gibt auch der Rapper zu. Die Führungsriege des Landes sei weitgehend identisch, die Sicherheitslage sogar schlechter, aber aufgeben will er nicht. "Es ist weder ein Gefühl der Frustration, noch der Müdigkeit. Es ist - wie unser Nationalheld Thomas Sankara einmal gesagt hat – der Eindruck, falsch verstanden worden zu sein."
Der Rapper Serge Bambara alias Smockey in seinem Musikstudio
Der Rapper Serge Bambara alias Smockey will mit seiner Protestbewegung Balai Citoyen, „Bürgerbesen“, weiter für den demokratischen Wandel in Burkina Faso kämpfen.© Katrin Gänsler
Smockey ist mittlerweile 49. Seine Demokratiebewegung sei noch am Leben.
"Für mich ist es ein Prozess, der weiter läuft. Man kann nicht behaupten, die Balai Citoyen hätten ihre Arbeit nicht zu Ende gebracht. Wann soll sie denn beendet sein? Wenn man sich von der Straße zurückzieht, einen Diktator oder Putschisten verjagt? Wir sagen: Der Kampf geht weiter. Er hört nicht auf."
Eins wird seiner Meinung nach oft vergessen. Burkina Faso: Das sind nicht nur die Politiker, die Sicherheitskräfte, die Milizen oder die Aktivisten. Es sind alle Menschen, die für das Land verantwortlich sind.
"Das wirkliche Problem sind doch die Bürger von Burkina Faso. Wir brauchen einen neuen Typus. Bürger, die verstehen, dass sie Macht haben. Anstatt sich ständig zu beklagen, sollten alle begreifen: Schlechte Führungskräfte haben wir nur, wenn wir entweder selbst schlecht sind oder eine schlechte Regierung nicht verhindert haben."
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