Buntes Panorama des geteilten Polens

Rezensiert von Martin Sander · 14.12.2005
Vor einhundert Jahren galt der Schriftsteller Henryk Sienkiewicz als bedeutendster polnischer Gegenwartsautor - vor allem durch seine historischen Romane. "Quo Vadis", Sienkiewiczs Epos über die Lage der Christen unter dem römischen Kaiser Nero, wurde zum Weltbestseller.
In seinem Heimatland erfreute sich darüber hinaus seine "Trilogie" aus der polnischen Geschichte größter Beliebtheit. Die drei Bücher "Mit Feuer und Schwert", "Sintflut" und "Herr Wołodyjowski", die auch heute zum klassischen Kanon gehören, erzählen von der wechselvollen Geschichte Polens im 17. Jahrhundert.

1905 wurde Sienkiewicz für sein Gesamtwerk der Nobelpreis verliehen - eine nicht ganz unumstrittene Auszeichnung. Kritiker bewog gerade die Popularität des Autors beim Lesepublikum zu manchem Zweifel an der literarischen Qualität seines Werks.

Der dann 1910, gleichsam auf dem Gipfel von Sienkiewiczs Ruhm veröffentlichte Roman "Wirren", den der Manesse Verlag nun in einer neuen Übertragung vorgelegt hat, nimmt eine besondere Stellung innerhalb von Werk und Wirkung des Nobelpreisträgers ein. "Wirren" fiel damals nicht nur bei der Literaturkritik durch, er fand auch wenig Gefallen beim Publikum.

In der Tat: Im Vordergrund werden die "Wirren" von einer nicht allzu originellen Liebesgeschichte in den so genannten höheren Kreisen dominiert. Der junge Gutsbesitzer Władysław Krzycki verliebt sich in die Adoptivtochter eines wohlhabenden englischen Fabrikanten. Eine Heirat unter Stand, doch mit verlockenden wirtschaftlichen Perspektiven bahnt sich an. Die des Polnischen mächtige Fabrikantentochter entpuppt sich alsbald als ein vor Zeiten emigriertes Dorfmädchen, das Krzycki einst verführt hatte.

Anders als in seinen übrigen großen Romanen hatte Sienkiewicz bei den "Wirren" auf jede historische Kulisse verzichtet und sich stattdessen als politisch engagierter Autor ganz der Gegenwart zugewandt. Nicht die Liebesnöte eines Krzycki, sondern die politischen Unruhen des Jahres 1905 verleihen dem Roman sein eigenes, auch heute spannendes Gepräge.

Damals war Polen geteilt. Der östliche Teil einschließlich Warschaus gehörte zu Russland. Die russischen Revolutionäre von 1905 trugen ihre Ideen bis in die ländliche polnische Provinz und spalteten damit die polnische Gesellschaft. Sozialisten forderten soziale Gerechtigkeit, Überwindung der Klassenschranken und eine Landreform. Vertreter des Adels setzten hingegen auf mehr Unabhängigkeit gegenüber dem Zaren. An einer Veränderung der innerpolnischen Verhältnisse lag ihnen nicht.

Sienkiewicz, der sich als Erzähler kompromisslos auf die Seite der nationalpolnischen Ideen schlägt und die Sozialrevolutionäre als törichte Gesellen abtut, entwirft gleichwohl ein farbenreiches Panorama der polnischen Gesellschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts. Seine Figuren, kauzige Gutsbesitzer, prätentiöse Gesellschaftsdamen, infantile Revolutionäre, bis zur Naivität gutherzige Frauen aus dem Volk oder verschroben-zynische Intellektuelle, bilden ein buntes, ebenso klar wie fein gezeichnetes Ensemble.

Dieser Lektüreeindruck ist nicht zuletzt einer sensiblen, in allen sprachlichen Nuancen überzeugenden Neuübertragung zu verdanken: Karin Wolff, der Übersetzerin, ist hier ein eigenes Meisterwerk gelungen.

Henryk Sienkiewicz: Wirren
Roman. Aus dem Polnischen von Karin Wolff
Manesse Verlag,
572 S., 22,90 €.