Buhrufe für Kriegenburgs "Otello"-Interpretation

Von Uwe Friedrich · 30.05.2010
Aus bühnenhoch aufgestapelten Stockbetten verfolgt der Chor das stürmische Geschehen am Hafen von Zypern. Das Einheitsbühnenbild von Harald Thor stellt ein Flüchtlingslager dar, hier vegetieren die Kriegsvertriebenen vor sich hin, kommentieren das Geschehen, greifen aber nie ein, und können, eingesperrt in ihre Schlafkojen, auch keinen eigenen Charakter entwickeln.
Regisseur Andreas Kriegenburg will das Eifersuchtsdrama von Otello und Desdemona vor der Folie einer Kriegsgeschichte zeigen. Der Feldherr leidet offenbar an einer posttraumatischen Belastungsstörung als Folge von Kriegs- und Gewalterlebnissen. Der Mohr von Venedig dreht also schon mächtig am Rad, wenn er eher beiläufig auf die Bühne geschlurft kommt, und ist vollends des Wahnsinns fette Beute, wenn er gegen Ende der Oper das berühmte Taschentuch in kleine Streifen reißt und neu verknotet, um damit seine Gattin Desdemona zu fesseln.

Wild mit den Augen rollen, Desdemona böse ins Haar greifen, sie schließlich eigenhändig und umständlich erwürgen, all das kann der Tenor José Cura sehr gut. Mit dem Singen sieht es schon problematischer aus. Der argentinische Macho-Sänger mogelt sich durch die anspruchsvolle Partie, und was nicht bequem in seine Stimme passt, das wird skrupellos passend gemacht. Da wird dann mächtig gestemmt und gequetscht, werden Spitzentöne mal bloß angetippt, mal triumphal ausgestellt. Mit Verdi hat das nur bedingt, mit Curas zweifelhaftem musikalischen Geschmack hingegen sehr viel zu tun. Das fällt umso stärker auf, als die Desdemona der Sopranistin Anja Harteros in Spiel und Gesang über jeden Zweifel erhaben ist. Faszinierender Farbenreichtum ihrer Stimme, musikalische Gestaltung, große Emotion, nicht zuletzt auch ihr Mut zu ganz leisen Tönen fügen sich zu einer faszinierenden Einheit, die vom Publikum zu Recht frenetisch gefeiert wurde.

Der Dirigent Patrick Summers blieb der Partitur allerdings Einiges an Farben schuldig und bremste die Sänger immer mal wieder aus. Am Regisseur kann das nicht gelegen haben, denn vor allem in den Ensembles hatten die Sänger freie Sicht auf den Dirigenten, da sie ohnehin bloß fein säuberlich an der Rampe aufgereiht herumstanden. Während der Schauspielregisseur Kriegenburg jeden einzelnen Sänger zu bemerkenswerten schauspielerischen Leistungen anregen kann und auch mit zwei bis höchstens drei Sängern schöne Szenen gelingen, etwa im Intrigenaufbau zwischen Iago und Otello, zwischen Iago und den anderen Soldaten oder in den wachsenden Zweifeln Otellos, während also die Kammerspielszenen fast durchweg gelingen, sehen die großen Ensembles aus, als hätten die Sänger das kurz vor Aufführungsbeginn noch schnell unter sich ausgemacht. Die politische Deutung des Eifersuchtsdramas als politische Tragödie vor Kriegshintergrund bleibt so eine reine Behauptung.

Die psychologische Charakterisierung des grundlos eifersüchtigen Feldherrn, des unergründlich bösen Iago, der unendlich leidenden Gattin, all das bleibt Stückwerk. Ob das Berliner Publikum in der Deutschen Oper deshalb so heftig buhte, oder doch bloß, weil es statt eines idyllischen Hafens ein unansehnliches Flüchtlingslager präsentiert bekam, kann Andreas Kriegenburg letztlich egal sein. Auch wenn Intendantin Kirsten Harms ihn hinterher tröstete, so etwas gelte in der Oper als Erfolg.